“A love affair from way back”
von Herbert Quelle
Der schwermütige Blues des Mississippi-Delta, der verspielte und experimentelle Jazz Louisianas und Chicagos, die sehnsüchtigen Klänge von Folklore-Songs über Güterzüge und Wurzellosigkeit: Sie gehören fest zum Sound Amerikas. Und zu dieser Musik gehört untrennbar ein kleines Instrument, das in Deutschland produziert wird: die Mundharmonika. Sie spielt im deutsch-amerikanischen Verhältnis eine ebenso bedeutsame wie unbekannte Rolle. Die Mundharmonika ist eines der am meisten importierten industriellen Fertigprodukte in die USA aus Deutschland und ein hervorragendes Beispiel für den gegenseitigen Nutzen von wirtschaftlichem und kulturellem Austausch. Auf dieser Seite des Atlantiks sicherte die hundertmillionenfache Nachfrage über viele Jahrzehnte Tausende von Arbeitsplätzen. In den USA erweiterten und revolutionierten geniale amerikanische Musikerinnen und Musiker die Spielmöglichkeiten des Instruments und schufen sich eine Lebensgrundlage.
Stellvertretend für eine kaum überschaubare Zahl von Amerikanern, die dazu beitrugen, dass die Mundharmonika in der Musikwelt ab Mitte des 20. Jahrhunderts endlich ernst genommen wurde, seien einige Beispiele genannt: Little Walter prägte den Chicago-Blues auf der diatonischen Mundharmonika. Als einer der ersten verstärkte er das Instrument direkt und verlieh ihm so einen leicht verzerrten Klang zwischen Saxofon und E-Gitarre. Er soll nie ohne seine Mundharmonika aus dem Haus gegangen sein und wird zitiert mit den Worten: „Me and my harp was a love affair from way back.” Larry Adler und John Sebastian prägten Jazz und Klassik mit dem Spiel auf der chromatischen Mundharmonika. Außerdem sei Howard Levy erwähnt, der herausragende Lehrmeister des chromatischen Spiels auf der diatonischen Mundharmonika. Der junge deutsche Virtuose, Konstantin Reinfeld, der 2019 einen OPUS KLASSIK Preis gewann, ist ohne den Einfluss der Schule von Howard Levy nicht denkbar.
Kein wirtschaftliches Überleben ohne den amerikanischen Markt
Ganze zwei aus Hunderten von Herstellern, die es im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert gab, existieren noch heute: die Manufaktur Seydel in Klingenthal, gegründet 1847, und der Großproduzent Hohner in Trossingen, seit 1857. Ohne den amerikanischen Markt wäre für Hohner das wirtschaftliche Überleben nach dem Zweiten Weltkrieg und für Seydel der Neuanfang nach der deutschen Wiedervereinigung nicht möglich gewesen. Beide Unternehmen sind heute weiterhin nicht nur auf den großen internationalen Musikmessen vertreten, die in den USA stattfinden. Sie zählen auch regelmäßig zu den größten Sponsoren der Jahreskonferenzen der amerikanischen Society for the Preservation and the Advancement of the Harmonica.
Die Pioniere, die zwischen 1820 und 1860 mit der Erfindung, dem Bau und der Fortentwicklung der Mundharmonika in Verbindung gebracht werden, konnten von der Bedeutung des Instruments für die Musik der künftigen Weltmacht nichts ahnen. Christian Friedrich Ludwig Buschmann, Johann Wilhelm Glier, Ignaz Hotz, Johann Langhammer, Johann Georg Meisel, Christian Messner, Joseph Richter, Christian August Seydel, Friedrich Wilhelm Thie, Matthias Hohner und ihre vielen Mitstreiter bilden den Ursprung einer weltumspannenden Geschichte, die noch lange nicht zu Ende ist und in der amerikanische Musikerinnen und Musiker weiterhin eine besondere Rolle spielen.
Schwarze Musikerinnen und Musiker prägten den Sound der Blues Harp
Trotz des für ihre Kompaktheit bemerkenswerten Tonumfangs von drei Oktaven blieb die Mundharmonika im Kreis der Instrumente ein Underdog. Ihre Spieler durften erst ab 1948 Mitglied der im Musikgeschäft einflussreichen Gewerkschaft der American Federation of Musicians werden. Vielleicht ist diese späte Anerkennung kein Zufall, denn es waren zu einem Großteil schwarze Musikerinnen und Musiker, die die Mundharmonika spielten. Sie setzten sich beim Spiel des Blues über die aus Europa überlieferten Spielkonventionen der Harp hinweg, nutzten mit innovativen Techniken deren einzigartige Qualitäten und machten sie, nach Stimme und Gitarre, zum drittwichtigsten Ausdrucksmittel für den Blues. Leider können die USA nach ihrem Austritt aus der UNESCO keinen Antrag mehr stellen, diese genuin amerikanische Musik in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufzunehmen.
25 Cent für eine Mundharmonika
Europäische Auswanderer in die USA, darunter viele Deutsche, waren die Ersten, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Mundharmonika im Gepäck hatten. Abolitionistisches Denken war unter den Deutschen, die aus der 1848er-Bewegung kamen, weit verbreitet. So dürfte es auch frühe Begegnungen mit Afroamerikanern gegeben haben, bei denen diese das Instrument kennenlernten. Spätestens im ausgehenden 19. Jahrhundert ermöglichte der in Chicago entwickelte Versandhandel von Sears und Montgomery Ward, allen Amerikanerinnen und Amerikanern, die 25 Cent übrig hatten, den Kauf einer Mundharmonika. Neben ihrer Kompaktheit war stets der niedrige Preis ein Grund für ihre Popularität.
Die systemische Rassendiskriminierung in den USA wirkte sich auch bis in die 1960er-Jahre auf die Unterhaltungsindustrie aus. Bis auf wenige Ausnahmen im Jazz blieb afroamerikanischen Musikerinnen und Musikern der Zugang zu großen kommerziellen Erfolgen schon allein durch die de facto segregierten Märkte versagt. Weiße Mundharmonikaspieler imitierten hingegen schon relativ früh den Blues und taten sich als Vaudeville-Künstler hervor. Sie waren auch führend bei der Gründung von Tausenden von Mundharmonikaorchestern, die 1926 und 1927 die Einfuhrzahlen auf jeweils mehr als schwindelerregende 21 Millionen Stück ansteigen ließen. Der Gesamtimport in den Goldenen Zwanzigern dürfte nicht weit unter 100 Millionen Stück gelegen haben.
Kleines Instrument, große Bühne
Selbst auf politischer Ebene spielte die Mundharmonika immer wieder eine Rolle beim Brückenschlag über den Atlantik. So schenkte der Präsident des Deutschen Bundesrats Präsident Eisenhower zu dessen Amtseinführung 1953 eine goldene Hohner-Mundharmonika. Bemerkenswert ist auch, dass von 1893 bis 1916 in der 8000-Seelen-Gemeinde Markneukirchen eine US-Konsularagentur bestand, deren Existenzberechtigung allein in der US-Zollabfertigung für den Instrumentenexport aus dem sächsischen Vogtland bestand.
Mit „Kein falscher Zungenschlag: Black Music Matters“ stellt Herbert Quelle die Rolle der deutschen Mundharmonika in den bilateralen Beziehungen mit den USA ins Zentrum. Es geht um die Geschichte und Spielweisen des Instruments, aber auch um seine bedeutende Wirtschaftsgeschichte. Eingebettet sind die umfangreich recherchierten Hintergründe in eine fiktive Rahmenhandlung: Ein 70-jähriger Deutschamerikaner tauscht sich bei einer gemeinsamen Deutschlandreise mit einem 25-jährigen Afroamerikaner im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahlen 2020 über Musik, Alltagsrassismus, Populismus, Politik, Rechtsextremismus, Migration und die Demokratiekrise aus.
Herbert Quelle ist ein deutscher Diplomat im Ruhestand, der insgesamt 10 Jahre in den USA gelebt hat. Sein musikalisches Hobby hat ihm, insbesondere auf dem letzten Posten Chicago, einen guten Zugang zur dortigen Musikszene ermöglicht. Er glaubt fest an die Zukunft der deutsch-amerikanischen Beziehungen. In Berlin widmet er sich jetzt ganz dem Schreiben und der Musik.