Als ein Frühstück in Ottawa den Weg für die deutsche Einheit ebnete
Vor 30 Jahren wurde in der kanadischen Hauptstadt am Rande der „Open Skies“-Konferenz der 2+4-Prozess beschlossen, der zur deutschen Wiedervereinigung führte.
Von Gerd Braune
Die mit Grafitti besprühte Betonplatte ist eine der Attraktionen des Canadian War Museum in der kanadischen Hauptstadt Ottawa. Sie ist ein Originalstück der Berliner Mauer – und ein Geschenk der Bundesrepublik Deutschland an Kanada. Das Mauerstück erinnert an ein Ereignis, das wegbereitend für die deutsche Wiedervereinigung im Oktober 1990 war: die „Open Skies“-Konferenz in Ottawa im Februar 1990. Am Rande dieser Konferenz fiel die Entscheidung, die so genannten 2+4-Gespräche zu beginnen, die zur deutschen Einheit führten.
Eine Plakette informiert Besucher des Museums, dass die Bundesregierung 1991 Kanada dieses Geschenk machte und dass ein Jahr zuvor „officials from East and West Germany, the United States, the Soviet Union, the United Kingdom and France had met in Ottawa, where they agreed to a framework for peaceful German reunification“. Der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher hatte das Mauerstück im September 1991 nach Ottawa gebracht. Fast 20 Jahre lang stand es im Konferenzzentrum der kanadischen Regierung, wo vom 12. bis 14. Februar 1990 die „Open Skies“-Konferenz stattgefunden hatte. Dann wurde es in das Canadian War Museum gebracht, wo es seitdem einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich ist.
Im Februar 1990 trafen sich die Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes in Ottawa
Dass Ottawa eine Rolle im deutschen Einigungsprozess spielte, ist nur wenigen Kanadiern bewusst. Und auch in Deutschland dürfte die Kenntnis über dieses Datum angesichts der Vielzahl wichtiger Ereignisse in der Umbruchzeit vom Sommer 1989 über den Mauerfall am 9. November bis zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 nicht sehr ausgeprägt sein. In Ottawa sind die runden Jahrestage dieses Ereignisses aber immer wieder Anlass, nicht nur auf diesen Prozess, sondern auf die transatlantischen Beziehungen und insbesondere die Beziehungen Kanadas zu Europa und Deutschland zu blicken.
Am 12. Februar 1990 hatten sich in Ottawa die Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes versammelt, um über „Open Skies“ zu verhandeln. „Open Skies“ (Offene Himmel) sollte ein wichtiges Element der Abrüstungspolitik und der vertrauensbildenden Maßnahmen sein: Beide Blöcke wollten einander militärische Aufklärungsflüge über ihrem Gebiet erlauben. Vorsitzender der Konferenz in Ottawa war Kanadas Außenminister Joe Clark, Leiter der kanadischen Delegation der Diplomat John Noble. Jetzt, anlässlich des 30. Jahrestags der Konferenz, stellte er auf einer Tagung im War Museum den historischen Kontext dar: Ein Jahr zuvor waren der neue US-Präsident George H. W. Bush und sein Außenminister James Baker zu einem ersten offiziellen Besuch nach Ottawa gekommen und hatten Kanadas Premierminister Brian Mulroney und Außenminister Clark getroffen. Thema der Gespräche waren weitere Schritte zur Verbesserung der Ost-West-Beziehungen und der Abrüstung. Mit „Glasnost“ und „Perestroika“ in der Sowjetunion unter Michael Gorbatschow schien die Chance gut, nach dem INF-Vertrag von 1988 über den Abbau nuklearer Mittelstreckenraketen weitere Entspannungsmaßnahmen einzuleiten. Die Kanadier setzten sich aktiv für ein neues Open Skies-Regime ein.
Offiziell ging es um die Überwachung des Luftraums – am Rande wurde Deutschlands Zukunft verhandelt
Mulroney hieß die Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes am 12. Februar in Ottawa willkommen, nachdem er und Clark Baker und den sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am Morgen zu einem Frühstück getroffen hatten. Weder Baker noch Schewardnadse hatten irgendeinen Hinweis gegeben, dass am darauffolgenden Tag der Prozess zur deutschen Einheit bekanntgegeben werden sollte, „vermutlich, weil sie sich darauf noch nicht verständigt hatten“, erinnert sich Noble. Genscher selbst traf aus Moskau kommend in Ottawa ein, wo er zusammen mit Bundeskanzler Kohl mit Gorbatschow über einen deutschen Einigungsprozess gesprochen hatte.
„Wie so oft, stand das historischste und fortwirkendste Ergebnis dieser Konferenz nicht auf der Tagesordnung“, erinnert sich Joe Clark rückblickend an die Tage der „Open Skies“-Konferenz. „Der 2+4-Prozess wurde in Gang gesetzt, wonach die zwei deutschen Staaten – Ost und West – sich mit den vier Siegermächten zu Diskussionen und Verhandlungen treffen sollten, die zur deutschen Vereinigung führten.“ Clark wird zugute geschrieben, dass er es durch seine Konferenzleitung den Außenministern James Baker (USA), Douglas Hurd (Großbritannien), Roland Dumas (Frankreich), Eduard Schewardnadse (Sowjetnuion), Oskar Fischer (DDR) und Hans-Dietrich Genscher (Bundesrepublik Deutschland) ermöglichte, sich mehrmals „aus den Diskussionen über die Überwachung des Luftraums davonzustehlen und sich auf die unmittelbare Zukunft Deutschland zu fokussieren“, wie es Clark formuliert.
„Eine der wichtigsten Vereinbarungen in der Nachkriegsgeschichte“
Am Morgen des bitterkalten 13. Februar 1990 hatte Genscher sich bei einem Frühstück in der Residenz des deutschen Botschafters mit seinen Kollegen Baker, Dumas und Hurd auf die „Zwei plus Vier“-Gespräche verständigt. Wie sich Dieter Kastrup, der 1990 als rechte Hand Genschers maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt war, bei einer Veranstaltung im Februar 2000 in Ottawa erinnerte, war es dann „an jenem kalten Tag“ in Ottawa in zahllosen bilateralen Gesprächen und Telefongesprächen mit den Hauptstädten und mit dem Überreichen handschriftlicher Notizen gelungen, auch den sowjetischen Außenminister Schewardnadse, der sich zunächst weigerte, „an Bord zu bekommen“. Es war eine Entscheidung, die Kastrup als „eine der wichtigsten Vereinbarungen in der Nachkriegsgeschichte“ bezeichnete.
Beim Mittagessen desselben Tages erfuhr Clark von Hurd, dass die „Berlin Four“, also die vier Alliierten, beabsichtigten, am Nachmittag den Beginn der Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands bekanntzugeben. Das Kommuniqué, das die sechs Außenminister dann in Ottawa und am 20. Februar im „Bulletin der Bundesregierung“ veröffentlichten, hatte folgenden Wortlaut:
„Die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten führten Gespräche in Ottawa. Sie vereinbarten, dass sich die Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik mit den Außenministern Frankreichs, des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten treffen werden, um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen. Vorbereitende Gespräche auf Beamtenebene werden in Kürze aufgenommen.“
Die sorgfältige Vorbereitung von Ottawa legte den Grundstein für die Logik des „2+4“-Vertrages
Einige westliche Kollegen Genschers, unter anderem der Niederlande, Italiens und Belgiens, waren nicht erfreut, als sie von den geheimen Verhandlungen durch die Medien erfuhren. Sie bezweifelten die Legitimität und forderten ein Mitspracherecht, was aber abgelehnt wurde. In dieser Frage, die Europa im Kern betraf, wollten diese Staaten mitreden. „Eine der Sorgen, in Europa und anderswo, war, dass ein vereinigtes Deutschland im Laufe der Zeit andere Staaten weniger konsultieren und häufiger unlilateral agieren würde“, schreibt Clark im Dezember 2009 in seinem Beitrag „From the Fallen Wall to Open Skies – Canada´s Diplomatic Role in the Reunification of Germany“ für „Eurostudia – Transatlantic Journal for European Studies“. Die Logik von „2+4“ und die sorgfältige Vorbereitung habe aber dazu geführt, „dass wir aus Ottawa mit einem Prozess herauskamen, der vielversprechend und intakt war.“ Auch auf kanadischer Seite wurde offenbar die Meinung geäußert, gegen die Ottawa-Vereinbarung zu protestieren, weil Kanada, das mit Truppenstationierung zur Sicherheit Deutschlands beigetragen hatte, ausgeschlossen war. Clark vertrat aber die Ansicht, dass „2+4“ besser sei als die „Lücke“, die vor den Ottawa-Gesprächen bestand.
Das Frühstück der vier Außenminister in der deutschen Residenz nimmt in dem schnellen Zyklus von Ereignissen zwischen dem 12. und 14. Februar 1990 eine besondere Rolle ein. Dieses Frühstück sei ein wichtiges Ereignis in der deutschen Geschichte, sagte 2015 Deutschlands Botschafter in Ottawa, Werner Wnendt, als am 25. Jahrestag der Konferenz ein Gemälde des deutsch-kanadischen Künstlers Horst Maria Guilhauman in der Residenz enthüllt wurde. So wichtig dieses Treffen auch war, an ein Foto hatte damals niemand gedacht. Es gibt kein Bild von den vier Ministern, die sich in der Residenz zusammensetzten und darüber sprachen, in welchem Format Gespräche über die deutsche Wiedervereinigung geführt werden sollen.
Dies führte zu der Idee, dieses Treffen nachträglich in Form eines Gemäldes zu dokumentieren. Guilhauman, der in Leer geboren wurde, als junger Mann nach Kanada auswanderte und in der Nähe von Ottawa ein Studio hat, erhielt diesen Auftrag. Das Ergebnis ist ein etwa 2,5 mal 1,5 Meter großes Ölgemälde auf Leinwand. Es zeigt den auch heute noch in der Residenz stehenden Tisch, an dem die Minister frühstückten. Die Stühle tragen die Namensschilder der Minister. Statt die Politiker aber auf den Stühlen zu malen, fertigte Guilhauman Porträtbilder von ihnen, die vor dem Fenster hängen. Als Vorlage dienten Fotos der Minister aus jener Zeit. Brillen und Kleidung mussten zur damaligen Zeit passen. Mehrere Jahre hing das Bild im Empfangssaal der Residenz, mittlerweile hat es einen festen Platz in einem Nebenraum gefunden.
Kanada gehörte zu den Staaten, die sehr früh den Einigungsprozess unterstützten. „We were the first NATO ally to declare our official support of the concept“, schrieb Ex-Außenminister Clark. Dass Kanada ein merkwürdiger Ort für das erste Treffen der früheren Gegner und den Beginn des 2+4-Prozesses gewesen sei, lässt Clark nicht gelten. Es sei der „natürliche Ort“ für ein solches Treffen gewesen, angesichts eines Kalten Krieges, der sich über Kontinente erstreckt habe, und im Lichte der beträchtlichen Rolle, die Kanada beim Entwurf und dem Erfolg der NATO und der damaligen KSZE gespielt habe. Die Europäer mögen bei Nordamerika zwar zunächst an die USA denken, aber, so meint Clark, Kanadas Verbindung zu Europa „mag wohl tiefer sein und ist sicherlich unverwechselbar. In gewissem Sinne sind wir eine europäische Gesellschaft im nordamerikanischen Umfeld.“
Gerd Braune lebt seit 1997 in der kanadischen Hauptstadt Ottawa und berichtet als freiberuflicher Korrespondent für Tageszeitungen in Deutschland, der Schweiz, Luxemburg und Österreich über Kanada. Seine Recherchen führten ihn in alle Regionen des Landes. Sein besonderes Interesse gilt den transatlantischen Beziehungen und den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Arktis.