Auf dem Weg zur Wirtschafts-NATO?
Von Ansgar Baums
Noch vor wenigen Monaten galt die NATO als “hirntot” – um den Bonmot gewordenen Interview-Knaller des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu gebrauchen. Jetzt zeigt sie wieder deutliche Lebenszeichen auf dem EKG. Der russische Überfall auf die Ukraine hat gezeigt, dass es eine robuste Sicherheitsallianz braucht, die die territoriale Integrität europäischer Nationen garantiert. Für die transatlantischen Beziehungen bedeutet die Wiederauferstehung der NATO als Bollwerk gegen die russische Aggression eine deutliche Aufwertung nach Jahren der Entfremdung während der Trump-Administration. Die Abstimmung unter den Verbündeten im Ukraine-Krieg verlief nicht immer reibungslos, aber dennoch wesentlich besser als viele Experten vermutet hätten. Zumindest im Fall der Ukraine nähern sich die USA und Europa sicherheitspolitisch an.
Eine gemeinsame Position in Bezug auf China zu finden, gestaltet sich allerdings wesentlich schwieriger. In den USA herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass China ein systemischer Rivale ist, dessen ökonomische und militärische Entwicklung es möglichst aufzuhalten gilt. Genau das haben die USA in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie von 2023 als Ziel definiert. Im Zentrum der amerikanischen Eindämmungsstrategie steht die Technologiepolitik. China soll der Zugang zu kritischen Technologien verwehrt werden, um es so in seiner ökonomischen und militärischen Entwicklung zu bremsen. Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten, hat ein neues Paradigma formuliert. Es soll in der amerikanischen Außenwirtschaftspolitik nicht mehr nur darum gehen, einen sicheren Vorsprung vor China zu behalten, sondern China aufzuhalten. Es geht nicht mehr um „running faster“ – schneller zu rennen als China. Sondern um einen „hard stop“.
Um dieses Ziel einer neuen Containment-Politik zu erreichen, setzen die USA vermehrt auf Hightech-Exportkontrollen. Die Idee ist es, die Wertschöpfungsketten im Technologiebereich zu nutzen und China mit Hilfe gezielter Exportkontrollen den Zugang zu zentralen Technologien wie Halbleiter-Produktionsmaschinen zu verwehren. Die Krux aus Sicht der USA ist, dass viele dieser “choke points” gar nicht von amerikanischen, sondern von Firmen in Europa, Südkorea oder Japan besetzt werden. Ein Beispiel: Im Oktober 2022 erließ die Biden-Regierung Exportkontrollen für künstliche Intelligenz und Hochleistungsrechner. Aus amerikanischer Sicht bestand allerdings die Gefahr, dass die Wirkung begrenzt sein könnte, solange das niederländische Unternehmen ASML weiter an China liefern würde. ASML hält eine Schlüsselposition in den komplizierten internationalen Lieferketten. Das Unternehmen hat ein Monopol auf Maschinen, die zur Herstellung von High-End-Chips benötigt werden. Die amerikanische Regierung verhandelte deshalb direkt mit der niederländischen Regierung und baute massiven Druck auf, um ein Loch im Zaun zu verhindern. Das Ergebnis war eine informelle Einigung. Die Niederlande stimmten einem Exportverbot der letzten Generation dieser Halbleiter-Produktionsmaschinen zu. Aus europäischer Sicht ein besorgniserregender Vorgang. Die pro-europäische Volt-Partei beschwerte sich anschließend öffentlich, dass das Handeln der USA die Souveränität europäischer Staaten einschränke.
Abstimmung mit Verbündeten im Bereich der Exportkontrollen
Die USA haben bislang darauf verzichtet, ihre geopolitische Agenda im Rahmen einer institutionalisierten Abstimmung mit Partnern zu verfolgen. Darunter leiden vor allem die transatlantischen Beziehungen. Internationale Vereinbarungen sind in Washington zur Zeit “out”, selbst mit engsten Verbündeten. Doch die Lage ist nicht komplett hoffnungslos. In Washington kursieren nun Vorschläge, sich zumindest im eng definierten Bereich der Exportkontrollen systematischer in einem festen Rahmen mit Verbündeten abzustimmen. Konkret geht es um einen Abstimmungsmechanismus, der sich stark an einem Instrument des Kalten Krieges orientiert: dem “Coordinating Committee for Multilateral Export Controls” – kurz CoCom. CoCom wurde 1949 geschaffen, um eine gemeinsame Position zu Exportkontrollen für sogenannte Dual Use-Güter zu finden – also Technologien, die sowohl für zivile als auch militärische Zwecke eingesetzt werden können. Der Trick von CoCom war ein doppeltes Vetorecht der Mitglieder: Erstens wurde die Liste der Güter, die unter Kontrollen fallen würden, einstimmig verabschiedet – eine hohe Barriere. Zweitens aber hatten Mitglieder ein Veto bezüglich der Ausfuhrgenehmigungen bei den gelisteten Gütern – der Mechanismus etablierte hier also ein weitgehendes Mitspracherecht der Mitglieder.
Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde CoCom irrelevant. An dessen Stelle trat das sogenannte Wassenaar-Arrangement, das sich in zwei entscheidenden Punkten von CoCom unterschied: Erstens richtete es sich nicht mehr gegen einen geopolitischen Rivalen. Es ging vielmehr eher um die Eindämmung regionaler Konflikte. Zweitens stand es weiteren Mitgliedern offen – unter anderem Russland. CoCom war ein Kind des Kalten Krieges, Wassenaar ein Produkt des “unipolaren Moments” nach 1990: jener Zeit, in der die Weltmacht USA keine ernstzunehmenden Konkurrenten hatte. Spätestens nach Russlands Angriffskrieg in der Ukraine ist klar, dass Wassenaar vorzeitig gealtert ist.
Kein Wunder also, dass nun Vorschläge zur Einrichtung einer CoCom 2.0 auf dem Tisch liegen: Eine Art “Wirtschafts-NATO”, in der die westlichen Partner gemeinsam Zugangskontrollen für “emerging technologies”, für neue Technologien entwickeln. Kevin Wolf, in der Obama-Regierung als Staatssekretär zuständig für Exportkontrollen und der Doyen der Exportkontroll-Afficionados in D.C., hat einen solchen Vorschlag entwickelt. Sein Vorschlag sieht vor, dass die Abstimmung zu den Kontrollen Hand in Hand gehen würde mit einem Verzicht auf solche Kontrollen im Binnenhandel zwischen den Mitgliedstaaten.
Eine tiefere Integration des transatlantischen Marktes
Aus europäischer Sicht stellt sich nun die Frage, wie dieser Vorschlag einer Formalisierung der Abstimmungen zu Exportkontrollen zu bewerten ist. Im Moment werden Exportkontrollen eher unverbindlich im Rahmen des US-EU Handels- und Technologierates (TTC) diskutiert. Die Vorteile einer Formalisierung dürften überwiegen: Ein Vetorecht bei der Definition kontrollierter Güter erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich Europa gegen eine US-getriebene Eskalation von Exportkontrollen wehren kann und ein “strong arming” wie im Falle ASML verhindert würde. Zum anderen böte sich die Chance, eine tiefere Integration des transatlantischen Marktes voranzutreiben – ein Projekt, das seit dem Scheitern der Pläne eines transatlantischen Freihandelsabkommens 2016 (TTIP) keine Fortschritte verzeichnen konnte. Drittens wäre CoCom 2.0 ein wichtiger Impuls, um die Fähigkeiten europäischer Staaten im Bereich der Exportkontrollen zu stärken. Zur harten Wahrheit gehört, dass nur wenige EU-Mitgliedsstaaten den „bürokratischen Muskel“ haben, um Exportkontrollen effizient umsetzen zu können. Hier ähnelt die Situation ein wenig der ewigen “Zwei-Prozent-Debatte” innerhalb der NATO: Während die US massiv investiert haben, um die zuständigen Behörden in die Lage zu versetzen, komplexe Technologie-Wertschöpfungsketten zu verstehen und Kontrollen zu implementieren, fehlen diese Fähigkeiten in Europa weitgehend.
Würde eine solche Wirtschafts-NATO die transatlantischen Meinungsverschiedenheiten zum Umgang mit China komplett auflösen? Das ist eher unwahrscheinlich. Der Vorgänger CoCom war nicht konfliktfrei: Nach Ende des Korea-Krieges drängten die europäischen Mitgliedstaaten auf eine Lockerung der Exportkontrollen. Dennoch: Ein institutioneller Rahmen zur gemeinsamen Positionierung im Bereich der Technologie-Kontrollen würde die arg gebeutelten transatlantischen Beziehungen auf festere Fundamente stellen. Europa sollte den Vorschlag aufnehmen und möglichst einheitlich auftreten. Auch Europa sollte eine Wirtschafts-NATO wollen – und zwar mit einer führenden Rolle der EU. Nur so wird es gelingen, europäische Interessen in einer geopolitisierten Welt erfolgreich zu vertreten.
Ansgar Baums ist derzeit Helmut-Schmidt-Fellow des German Marshall Fund of the United States in Washington, D.C. Er ist zudem Mitglied der Atlantik-Brücke und berät Unternehmen zum Thema geopolitisches Risikomanagement. Derzeit arbeitet er an seinem neuen Buch „Tech Cold War“.