Auf der Suche nach der Bundeswehr der Zukunft
Die Projektgruppe Weißbuch 2016 des Bundesministeriums der Verteidigung hat ihren Diskussionsprozess über die verteidigungs- und sicherheitspolitischen Richtlinien der nächsten zehn Jahre mit Experten fortgesetzt. Nach einer Auftaktveranstaltung mit mehr als 200 Teilnehmern im Februar dieses Jahres und mehreren weiteren Experten-Workshops in den vergangenen Wochen mit jeweils etwa 80 Teilnehmern aus Politik, Wissenschaft und Denkfabriken sowie Medien diskutierten Vertreter der Projektgruppe mit einem ausgewählten Kreis von acht Mitgliedern und Gästen der Atlantik-Brücke. Das Expertengespräch unter der Leitung von Professor Dr. Burkhard Schwenker, der die Arbeitsgruppe Außen- und Sicherheitspolitik leitet, diente dazu, mit Ideen und Anregungen einen Beitrag zur Partizipationsphase zu leisten, indem unterschiedliche Blickwinkel und Perspektiven aus verschiedenen Branchen von Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Medien auf den Weißbuchprozess eingenommen werden. Die folgenden Passagen dokumentieren die Ergebnisse dieses Gespräches.
Im Zentrum der Diskussion stand der Themenkomplex der hybriden Kriegsführung. Die Experten beschäftigte vor allem die Frage der Begriffsbestimmung von hybrider Kriegsführung. Dabei ist zunächst die Kombination aus konventioneller Kriegsführung und intensiver Nutzung des Cyberraums wichtig. Letztere kann in Form einer propagandistischen Flankierung einer bewaffneten Aktion – etwa in den sozialen Medien und Plattformen – auftreten, oder aber auch als Cyberattacke. Der Hacker-Angriff auf das interne Netzwerk des Deutschen Bundestages liegt erst wenige Wochen zurück. Die These, dass bei der hybriden Kriegsführung noch nicht Krieg herrscht, aber es auch weniger als Frieden ist, betrachteten die Teilnehmer als eine zutreffende Beschreibung der aktuellen Situation. Als weiteres wichtiges Definitionsmerkmal identifizierten die Experten die Tatsache, dass die hybride Kriegsführung keinem Akteur eindeutig zuzuordnen ist. Hinzu kommen Einschüchterungstaktiken und die Einflussnahme auf Unternehmen und Organisationen mit dem Ziel, das Handeln von Regierungen zu beeinflussen. Die Gesprächsteilnehmer deklarierten auch die Geschwindigkeit und die vielfältigen Möglichkeiten der Cybernetzwerke, also die technischen Komponenten, als prägende Kriterien.
Ukraine-Konflikt beispielhaft
Die Teilnehmer werteten das Phänomen als Bedrohung, die sich gerade in sozialen Netzwerken manifestiert und somit die gesamte Gesellschaft betrifft. Doch auch klassische Medien wie Tageszeitungen und Fernsehsender sind davon bedroht, für propagandistische Zwecke instrumentalisiert zu werden. Vermeintliche Leserbriefe und Zuschauerreaktionen in teilweise erheblichem Umfang stellen eine weitere Angriffsart der hybriden Kriegsführung auf der Medienebene dar. Mehrere miteinander verbundene Strategien sind nötig, um hiergegen gewappnet zu sein. Bei der Annäherung an die Zielsetzung der erfolgreichen Bewältigung hybrider Herausforderungen muss grundsätzlich stets die finanzielle Machbarkeit im Blick behalten werden. Als aktuelles Fallbeispiel für diese Art von Konflikten, so die einhellige Meinung, dient der Ukraine-Konflikt. Was die Bedrohung durch die Terrormiliz Islamischer Staat im Irak und in Syrien angeht, gingen die Ansichten hingegen auseinander. In einer ersten Zusammenfassung wurde festgehalten, dass in der hybriden Kriegsführung ein Aggressor verschiedene Kanäle nutzt – das Militär, die Kommunikation, die Wirtschaft –, sich dabei unterschiedlicher Instrumente bedient und damit das Ziel verfolgt, Verunsicherung zu schaffen.
Das Verschmelzen der Schnittstelle von innerer und äußerer Sicherheit war eine weitere intensiv diskutierte Frage. In diesem Kontext wurde gefordert, auf die hybride Kriegsführung in einem ersten Schritt „einen 360-Grad-Blick der kognitiven Fähigkeiten von innen nach außen“ anzuwenden. Die Experten verglichen die Debatte mit den disruptiven Veränderungen, die die Digitalisierung in der Wirtschaft auslöste. Viele Unternehmen haben sich hier die Frage gestellt, ob ihr Geschäftsmodell noch funktioniert oder ob sie sektorale Kooperationen innerhalb der Industrie eingehen sollen.
Alle Bereiche potenziell gefährdet
Einen besonderen Fokus legte der Expertenkreis auf den ganzheitlichen Ansatz als wesentliches Charakteristikum hybrider Kriegsführung, um daraus mit Blick auf die deutsche Sicherheitspolitik fünf Aspekte abzuleiten. Alle Politik- und Wirtschaftsbereiche sind potenziell von der Bedrohung betroffen. Die Verzahnung der Bereiche zur Abwehr eines hybriden Angriffs, der ausreichende Schutz neuralgischer Schnittstellen und das Überwinden der Verwundbarkeit gelten hierbei als die wichtigsten Fragestellungen. Die Fähigkeit, flexibel und schnell zu reagieren, ist zwingend geboten. Die fünf für die Bundeswehr relevanten Handlungsfelder sind die Krisenfrüherkennung, die durch das Sammeln und richtige Lesen der Daten aus der Aufklärung gekennzeichnet ist, die Stärkung der Resilienz im Bereich der kritischen Infrastruktur, die strategische Kommunikation, die Zusammenarbeit in NATO und EU sowie schließlich die verteidigungspolitischen Maßnahmen im Bereich der Abschreckung.
Als ein weiteres Ergebnis ermittelten die Diskussionsteilnehmer, dass ein Aggressor seinen Angriff schneller und leichter durchführen kann als in den klassischen Konflikten des 20. Jahrhunderts. Diese Tatsache hängt eng damit zusammen, dass die digitale Verbindung aller Regelkreise zu Steuerbarkeitsverlust nach innen und erhöhter Verwundbarkeit nach außen führt. Dies stellt die Verteidigungspolitik vor erheblich komplexere Herausforderungen als bisher. Ein wesentlicher Ansatz, diesen angemessen zu begegnen, besteht darin, dass die Organisationsstruktur der deutschen Sicherheitsarchitektur auf Optimierungs- und Reformbedarf hin betrachtet werden muss. Als Idee wurde hier eine noch zu schaffende koordinierende Institution in die Diskussion eingebracht, um den permanenten Überblick auf dem Feld der hybriden Kriegsführung zu haben. Es stellt sich also unweigerlich die Frage, wie das Bundesministerium der Verteidigung in einem solchen Szenario eigene, zukunftsorientierte Strategien umsetzen kann. Die Runde sprach sich für die Empfehlung aus, sich mit den USA, Frankreich, Großbritannien, aber auch Finnland über deren Management der zentral organisierten Verteidigung auszutauschen.
Aufgrund der demokratischen Werte westlicher und europäischer Staaten ist es allerdings nicht möglich, zur Abwehr von hybriden Herausforderungen mit den gleichen Mitteln, wie sie der Angreifer nutzt, zu reagieren. Die Experten teilten das Verständnis über die Bundeswehr als ein Instrument gesamtstaatlicher Sicherheitsvorsorge. Was die Streitkräftestruktur angeht, dauert der Prozess der Neuausrichtung noch an. Die Fachleute konstatierten, dass es angesichts des Auftretens der hybriden Kriegsführung und des Agierens nichtstaatlicher Akteure für die Bundeswehr eine zunehmend komplexe Aufgabe ist, Angriffsmuster zu antizipieren.