Außen- und Sicherheitspolitik

Auswege aus Deutschlands wachsenden strategischen Dilemmata

Von Gunther Hellmann und Daniel Jacobi

13. Februar 2019

Die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die Vereinigten Staaten und Russland, der bevorstehende, vertraglich geregelte oder „harte“, Brexit und die Aussetzung der Bundeswehrbeteiligung an der EU-Mission „Sophia“ im Mittelmeer zur Bekämpfung von Schleusernetzwerken bezeichnen sehr unterschiedliche Problembereiche, die sich derzeit der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik stellen. Alle drei verweisen aber auf ein grundsätzliches und sich tendenziell verschärfendes strategisches Problem deutscher Außenpolitik: die Rahmenbedingungen multilateraler Kooperation innerhalb Europas und weltweit verschlechtern sich rapide und damit auch die Möglichkeitsbedingungen anhaltenden deutschen Wohlstandes und verlässlicher europäischer Friedenssicherung.

Mehr noch, die Chancen deutscher Außenpolitik, die Bearbeitung dieser Probleme im Sinne eigener Interessen zu steuern oder doch zumindest wesentlich zu beeinflussen, schwinden zusehends – und dies trotz oder gerade wegen einer zunehmend zentralen Machtstellung im Zentrum der EU. Strategisch, d.h. im Sinne eines übergeordneten Plans der Sicherheitsvorsorge, stellen sich der Bundesrepublik nämlich mindestens vier Herausforderungen:

Erstens unterstreichen zahlreiche neuere Entwicklungstrends wie etwa das Erstarken von Nationalismus, Autoritarismus und Populismus nicht nur die Zerbrechlichkeit des politischen Zusammenhalts in Europa, sondern auch die schwindende Fähigkeit selbst machtvoller Staaten, solche Prozesse im Sinne eigener Präferenzen zu steuern.

Zweitens verschärft sich Deutschlands strategisches Dilemma, führen zu sollen, gleichzeitig aber nicht dominant erscheinen zu dürfen. Die von den NATO-Verbündeten, allen voran US-Präsident Trump, eingeforderte Umsetzung der Vereinbarung von Wales, bis 2024 den Anteil der Verteidigungsausgaben „an zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzunähern“, muss nicht zuletzt deshalb als eine indirekte Aufforderung zur Führung verstanden werden, weil Deutschland damit auch militärisch mit Abstand zur stärksten europäischen NATO-Macht aufsteigen würde. Selbst wenn es lediglich bei einem Anteil von 1,5 Prozent bliebe, wie dies in dieser Woche nach Brüssel gemeldet wurde, ändert sich daran nichts Grundlegendes.

Es gibt Anzeichen dafür, dass die Trump-Administration mit „divide-et-impera“-Kalkülen liebäugelt, um die europäischen Verbündeten gefügig zu machen.

Verschärft wird dieses Dilemma, drittens, dadurch, dass die USA ihre traditionelle Rolle, als ausgleichende und befriedende Macht („pacifier“) unter ihren europäischen Verbündeten zu wirken, nicht mehr spielen wollen und dadurch völlig neue Anreize setzen, innerhalb der EU Gegenmachtbildungsreflexe zu mobilisieren. Mehr noch, es gibt sogar Anzeichen dafür, dass die Trump-Administration mit „divide-et-impera“-Kalkülen liebäugelt, um die europäischen Verbündeten für ihre Ziele gefügig zu machen. Dies wirkt sich im Moment insbesondere negativ auf das deutsch-polnische Verhältnis aus, weil die Stationierung US-amerikanischer Truppen in Deutschland bzw. Polen zum Spielball Washingtoner Disziplinierungspolitik zu werden droht.

Die aktuellen Auseinandersetzungen um den deutschen Verteidigungsetat, die sich nach der jüngst entdeckten Lücke im Finanzplan noch zuspitzen und sogar zur „Sollbruchstelle“ der Koalition werden könnten, zeigen zudem viertens, dass diese außenpolitischen Dilemmata noch innenpolitisch akzentuiert werden. Wo liegt also ein möglicher Weg mit dieser komplexen Lage umzugehen?

Ein möglicher struktureller Lösungsansatz im Innern wäre, die im Kontext der Erstellung des Weißbuchs 2016 bereits ins Auge gefasste Dynamisierung von Strategiebildungsprozessen voranzutreiben, um flexibler auf sich verändernde Bedrohungslagen reagieren zu können. Im Verteidigungsministerium werden entsprechende Überlegungen angestellt.

Die Bundesregierung sollte danach streben, eine Balance zwischen einer durchsetzungsfähigen aber dennoch eingebundenen Führungsrolle zu finden.

Im Kontext deutscher Bündnispolitik könnte zudem das sogenannte „Framework Nations Concept“ systematischer genutzt werden. Als „Rahmennation“ sollte die Bundesregierung danach streben, eine Balance zwischen einer durchsetzungsfähigen aber dennoch eingebundenen Führungsrolle zu finden. Denn der Umstand, dass die Bundesrepublik als Rahmennation sukzessive über das gesamte militärische Spektrum verfügen wird, während kleinere Partner zur Spezialisierung gezwungen sind, muss hinsichtlich der erwartungsverlässlichen Rückversicherung der immer stärker in deutsche Abhängigkeit geratenden, zumeist kleineren europäischen Verbündeten aufgefangen werden. Das aktuelle Beispiel der Aussetzung der „Mission Sophia“ illustriert dies sehr gut, weil einerseits eine gewisse Abhängigkeit Italiens von einer deutschen Beteiligung an der Mission gegeben ist, anderseits aber auch das machtpolitische Gewicht Deutschlands zugunsten wechselseitig verbindlicher multilateraler Lastenteilungsarrangements in die Waagschale geworfen werden kann.

Da der Multilateralismus aber auch innerhalb der EU gefährdet und keineswegs gesichert ist, dass er sich unter dem parallel zunehmenden Druck aus Moskau und Washington wie auch im Lichte wachsender deutscher Macht bewähren wird, sollte gleichzeitig nach innen eine weitere Dynamisierung sicherheitspolitischer Strategiebildung mit dem Auf- und Ausbau „strategischer Resilienz“ einhergehen. Dabei geht es insbesondere darum, strategische Verwundbarkeiten Deutschlands dergestalt zu reduzieren, dass die Erschütterungsfestigkeit der deutschen Demokratie und der tragenden Säulen des Wohlstandes gestärkt werden.

Außen- und Sicherheitspolitik sollte stärker demokratisiert werden. Das stärkt die Resilienz einer „offenen Gesellschaft“ gegenüber ihren „Feinden“ am besten.

In einem breiten Verständnis der Sicherheitsvorsorge bedeutet dies konkret, gesamtstaatliche Vorkehrungen auch jenseits militärischer Sicherheit für den Fall zu treffen, dass noch weitereichende Erschütterungen innereuropäischer Zusammenarbeit eintreten. Um nur einen Teufel an die Wand zu malen: Die Vorstellung, dass der französische Präsident Macron bei einer sich weiter zuspitzenden innenpolitischen Krise von der „Gelbwesten“-Bewegung und ihren Sympathisanten weggefegt und durch radikalere – und deutlich stärker deutschlandkritische – Kräfte ersetzt werden könnte, ist keineswegs weit hergeholt.

Gerade weil eine verlässliche Vorhersage kommender Gefahren aber unmöglich ist, muss Krisenvorsorge neben der Vermeidung möglicher Schäden vor allem auf die Stärkung der Absorptionsfähigkeit des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems abzielen, wenn sich massive Erschütterungen tatsächlich ergeben sollten. Eine Maßnahme, die in diesem Kontext in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen ist, ist der offene und öffentliche Austausch über den Umgang mit Bedrohungen unserer Sicherheit. Zugespitzt: Außen- und Sicherheitspolitik sollte zumindest in dem Sinne entstaatlicht und stärker demokratisiert werden, dass eine breitere Öffentlichkeit in das Gespräch darüber einbezogen wird, was uns bedroht oder nicht bedroht und wie damit umzugehen ist. Das stärkt die Resilienz einer „offenen Gesellschaft“ gegenüber ihren „Feinden“ am besten.

Meinungsbeitrag vor dem Hintergrund der Veröffentlichungen The German White Paper 2016 and the Challenge of Crafting Security Strategies, Frankfurt und Berlin: Goethe Universität und Aspen Institute Germany (2019) und Das Weißbuch 2016 und die Herausforderungen von Strategiebildung (ZfAS Sonderheft 2019), Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften (2019).

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