Das neue Internet muss aus Ankern des Vertrauens bestehen
Professor Gerhard Fettweis, Experte für mobile Nachrichtensysteme und Young Leader Alumnus der Atlantik-Brücke von 1998, untersucht die vielfältigen Herausforderungen für die langfristige Forschung zur digitalen Demokratie. Dabei spielt auch die Implementierung des 5G-Mobilfunkstandards eine wichtige Rolle. Technologische Innovationen benötigten ein vertrauenswürdiges Internet als Grundlage für eine regelbasierte Veränderungsbereitschaft von Nutzern, schreibt Fettweis zusammen mit Patricia Grünberg und Tim Hentschel, die das Barkhausen Institut in führenden Positionen repräsentieren. Ihr folgender Gastbeitrag ist Teil einer Publikation dieses neu gegründeten Forschungsinstituts.
Von Gerhard Fettweis, Patricia Grünberg und Tim Hentschel
In den vergangenen Jahren haben sich die Klagen über die Schnelllebigkeit unserer Zeit verstärkt. Der technologische Fortschritt sowie der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel verändern unser tägliches Leben und werfen neue Fragen auf: Wohin führt uns der aktuelle Innovationsweg? Welche Folgen hat die Digitalisierung und wohin wird sich das Internet entwickeln? Wie werden eine zukünftige Gesellschaft und das politische System aussehen?
Doch gehen wir zunächst einen Schritt zurück und fragen wir uns: Ist die Innovationsrate heute wirklich so hoch wie noch nie? Haben die Erfindungen einen beispiellos großen Einfluss auf unseren Alltag?
Ein Blick zurück in unsere Geschichte zeigt: Neue Erfindungen und damit einhergehende Veränderungen haben die Menschheit schon immer vor Herausforderungen gestellt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden innerhalb weniger Jahrzehnte die Glühbirne, der Fahrstuhl, die Straßenbahn und das Auto erfunden. Anfang des 20. Jahrhunderts folgten das Flugzeug, die Waschmaschine, der elektrische Kühlschrank, das Fernsehen und viele mehr. Sie haben das alltägliche Leben der Menschen wirklich tiefgreifend verändert. Diese und viele weitere Erfindungen waren Ausgangspunkt für eine steigende Mobilität und Freizeit, die Hochindustrialisierung und verbesserte Lebensbedingungen.
Das Neue an unserem digitalen Zeitalter ist, dass es weniger Innovationen im Sinne von „Geräten“ gibt, die wir benutzen und die unser Leben verändern; vielmehr stehen wir mitten in einem gesellschaftlichen Wandel aufgrund veränderter Kommunikation. Nicht nur die Geschwindigkeit der Datenübertragung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten um ein Vielfaches erhöht: durch das Internet, mobile Endgeräte und soziale Medien hat sich auch die Art und Weise der Kommunikation deutlich verändert.
Als Mitte des 15. Jahrhunderts Gutenberg den Buchdruck erfand, bildete dies den Ausgangspunkt für ein neues Ausmaß der Verbreitung von Informationen, Wissen und Meinungen. Er war die Grundlage für Massenkommunikation und Journalismus und wird von einigen Historikern als Ausgangspunkt der Renaissance gesehen. Diese Sprunginnovation in der Kommunikation hat viele Unsicherheiten geschaffen, und politische, wirtschaftliche, sowie Religion betreffende Revolutionen und Innovationen ausgelöst. Über 500 Jahre später bildet die Erfindung des Internet (WWW: „World Wide Web“) im CERN 1989 die Geburtsstunde für eine ganz neue Ära der Informationsverbreitung. Die Möglichkeit, selbst jederzeit Inhalte zu erschaffen und zu verbreiten, versprach Unabhängigkeit, neue Freiheiten und sogar demokratiestärkende Effekte.
Doch in Zeiten von Fake News, Hate Speech und Shitstorms fühlen sich viele Menschen verloren, wissen nicht mehr, worauf sie vertrauen können. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass neue Forschungsbestrebungen zur Entwicklung des Internet of Things (IoT), Künstlicher Intelligenz und Quantenkommunikation in einigen Teilen der Bevölkerung auf einen Fortschrittspessimismus und auf Ängste treffen. Umso drängender erscheint deshalb die Frage, wie ein langfristig stabiles Gemeinwohl in einer digitalen Demokratie aufgebaut und sichergestellt werden kann. Wie können Werte, Freiheiten, Rechte und Pflichten der Einzelnen sinnvoll geschaffen und geregelt werden?
Wir können auf diese Fragen keine schnellen Lösungen anbieten. Allerdings sollten wir unsere Forschung und unser Handeln an ihnen ausrichten. Es muss uns gelingen aufgrund absehbarer Technologieentwicklungen auf neue Einsatz- und Anwendungs- szenarien vorbereitet zu sein. Zudem müssen wir verstehen, wie Werte und Regeln so gestaltet werden können, dass sie ihre Wirksamkeit entfalten, ohne die Rechte des Einzelnen zu beeinträchtigen.
Langfristige Lösungen finden
Wie könnten also solche Regeln aussehen? Eine scheinbar schnelle Lösung versprechen entsprechende Gesetze und Vorschriften. Mit Verboten und Geboten hat die Menschheit bisher häufig auf Herausforderungen reagiert. Insbesondere das Internet hat uns allerdings die Grenzen der Durchsetzbarkeit von Gesetzen aufgezeigt, wird doch mittlerweile häufig vom Internet als rechtsfolgenfreiem Raum gesprochen. Eine andere vermeintlich schnelle Lösung ist der technische „Schutz“ vor Gefahren. Typische Beispiele dafür sind die Firewall oder der Virenscanner. Allerdings wissen wir, dass ein hundertprozentiger Schutz niemals möglich ist, vor allem nicht im Angesicht kurzer Innovationszyklen. Denn der Schutz vor einer Gefahr kann erst aufgebaut werden, wenn die Gefahr erkannt wird. So hinkt ein möglicher Schutz dem Auftreten einer Gefahr immer hinterher. Andererseits ist komplette digitale Freiheit ohne Beschränkungen und Durchsetzung von Rechten und Regeln auch kein Ausweg.
Um einer Lösung in diesem Dilemma näher zu kommen, befassen wir uns mit dem menschlichen Verhalten und seinen evolutionär entstandenen Steuerungsmechanismen. Hier bedienen wir uns zweier Begriffe aus dem „Model of Human Occupation“:
Habituation (Gewöhnung) bezeichnet das Erlernen von Rollenmustern und Arbeitsroutinen. Welche Rolle spielt die Habituation in der Internetsicherheit? Eine mögliche Gefahr durch zukünftige Technologien kann sich durch die böswillige Ausnutzung dieses Gewöhnungseffektes ergeben, wenn Menschen aus reiner Gewöhnung z.B. einen Mausklick machen, hinter dem sich aufgrund neuer noch unbekannter Technologie eine Gefahr verbergen kann (z.B. ein Trojaner).
Volition steht für die Motivation, die sich aus Interessen, Selbstbild und Wertbild zusammensetzt. Eine mögliche Gefahr durch neue Technologien besteht hier in einer gezielten Beeinflussung der Menschen, Dinge zu tun, die sie normaler Weise nicht tun würden (z. B. in Form von gezielter Manipulation von Wahlberechtigten).
Hieraus ergeben sich mehrere Fragestellungen, z. B. können wir Systeme bauen, die die Menschen warnen, wenn sich Situationen ergeben, für die es keine taugliche Habituation gibt? Ein bekanntes Beispiel aus unserem Umgang mit heutiger Technologie soll das verdeutlichen: Wir haben uns daran gewöhnt, in E-Mails auf Links zu klicken, anstatt diese mühevoll in die Adresszeile des Browsers zu kopieren. Diese Verhaltensweise ist eines der Haupteinfallstore für Trojaner und Computerviren. Eine einfache Warnung könnte hier bereits Abhilfe schaffen, ohne dass das Ausführen von Links vollkommen unterbunden wird. Um derartige Warnungen nur im Risikofall auszugeben (damit der Nutzer sich nicht an die Warnungen gewöhnt), müsste der Link im Hintergrund automatisch auf Anomalien untersucht werden. Dies ist technisch durchaus möglich: Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz könnten Links auf derartige Anomalien, also Abweichungen von der bis dahin erlernten Norm, untersucht werden, und die Nutzerinnen und Nutzer vor allem Neuen und potenziell nicht Vertrauenswürdigen gewarnt werden. Dies wäre eine Umkehr von der Logik aktuell existierender Anti-Viren-Software, welche mittels einer Datenbank mit bekannten Bedrohungen arbeitet.
Derartige Lösungen wären eine Evolution heutiger Technologien. Mit dem Einzug von künstlicher Intelligenz in das Internet müssen wir uns jedoch die Frage erlauben, ob derartige mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Systeme auch eine eigene Habituation und Volition haben oder haben sollten. Ist künstliche Intelligenz mit eigener Habituation und Volition vielleicht sogar nötig? Denn die im o. g. Beispiel erwähnte Unterscheidung zwischen bedrohlichen Links bzw. Dateistrukturen und noch nicht bekannten muss erst erlernt und kontinuierlich erweitert werden. Es ist kaum möglich, all dies fest zu programmieren. Eine Beantwortung dieser Fragen benötigt das Wissen und die Zusammenarbeit von verschiedenen Forschungsdisziplinen, u. a. der Psychologie, der Verhaltensbiologie, dem Ingenieurwesen, der Soziologie und der Rechtswissenschaften.
Die damit verbundenen Herausforderungen sind heute noch nicht absehbar. Deshalb muss die Forschung vielmehr an einem „beweglichen Ziel“ arbeiten. Lösungen sind nur langfristig zu erwarten – ein 100-Jahreszeitraum ist dafür nicht unwahrscheinlich. Das Ziel muss sein, ein vertrauenswürdiges Internet als Grundlage für eine “Digitale Demokratie” zu entwickeln. Mit dieser Herausforderung im Blick wollen wir ein Programm für die nächsten 25 Jahre aufstellen.
Forschungsherausforderungen der nächsten 10 Jahre
Seit Beginn der Ära des digitalen Mobilfunks ab 1990 hat sich insbesondere die Geschwindigkeit der Datenübertragung deutlich erhöht. War die Geschwindigkeit anfangs ausreichend, um Sprache zu übertragen, so wurden mit der Weiterentwicklung der Mobilfunkstandards auch neue Anwendungen, wie Videoübertragung, möglich. Mit dem 5G-Standard stehen echtzeitfähige Datenverbindungen für neue Anwendungen in der digitalen Welt zur Verfügung, insbesondere im Bereich Industrie 4.0. Während der Ausbau von 5G aktuell im vollen Gange ist, um ein breit verfügbares taktiles Internet zu ermöglichen, nimmt die Forschung bereits die nächsten Entwicklungen in den Blick. So gibt es Überlegungen, mit Hilfe des zukünftigen Mobilfunks „6G“ ca. ab 2030 weitere menschliche Sinne mittels technischer Sensorik und Aktorik nachzubilden bzw. zu erweitern. Neben Geräuschen, Bildern und Taktilität könnten dann auch Geschmack und Geruch übertragbar werden. Ebenso ist die Übertragung nicht-menschlicher Sinne vorstellbar, wie die Echolokation (in Anlehnung an den Ultraschallradar der Fledermäuse) oder das Wahrnehmen elektrischer Felder (in Nachahmung eines Großteils der Fischarten). Für die kommenden 10 Jahre gilt es daher, u. a. Antworten auf die folgende Frage zu finden: Was müssen wir für die nächsten Mobilfunkgenerationen (d. h. 6G und darüber hinaus) entwickeln?
Im Hinblick auf die kontrovers geführten Diskussionen zu den Lieferketten für 5G- Ausrüstung und einer möglichen politischen Einflussnahme der Staaten, aus denen die Hauptlieferanten kommen, lässt sich die Frage wie folgt präzisieren: Wie positionieren wir Deutschland und die EU für 6G und darüber hinaus?
Eine Antwort auf diese Frage allein ist aber nicht ausreichend. Wie eingangs erwähnt, hat sich in großen Teilen der Gesellschaft Misstrauen ausgebreitet gegenüber der Technik und ihren Lieferanten bzw. Betreibern. Beim kontinuierlichen Aufbau einer zukunftsfähigen und innovationsfreudigen Gesellschaft sind wir also zusätzlich herausgefordert, das Misstrauen von Teilen der Gesellschaft durch Vertrauen zu ersetzen. Dieses Vertrauen kann nur durch positive Erfahrungen einer persönlichen Selbstbestimmtheit im Umgang mit der Technik und miteinander wachsen.
Wie gewährleisten wir also diese digitale Souveränität jedes und jeder Einzelnen sowie der freiheitlichen Gesellschaft? Und als Ingenieure fragen wir uns, wie wir grundlegende Elemente für ein derartiges neues Internet entwerfen? Dieses neue Internet muss auf einem technischen Fundament ruhen, das aus so genannten Vertrauens-Ankern besteht, die wiederum aus vertrauenswürdiger Hardware und Software bestehen. Die Gesamtheit dieser Hardware und Software nennen wir eine vertrauenswürdige IoT-Plattform, die schließlich ein verantwortungsbewusstes Handeln unterstützt (oder vorschreibt oder sogar selbst durchführt). Ein derartiges mit Vertrauens-Ankern ausgestattetes Internet fordert die Gesellschaft nicht heraus, sondern ist Stütze einer „Digitalen Demokratie“ und Ausgangspunkt für weitere Innovationen.
Unser Ziel muss es deshalb sein, die vor uns liegenden technischen Entwicklungen und damit einhergehenden Herausforderungen aufmerksam zu beobachten und Impulse für eine interdisziplinäre Forschung zu geben. Nur so kann der Aufbau einer digitalen Demokratie gelingen.
Gerhard Fettweis ist Professor für mobile Nachrichtensysteme an der TU Dresden. Er fungiert zudem als Koordinator für Wireless Communications des 5G Lab Germany. Mehr über die Forschung von Professor Fettweis lesen Sie hier. Dr. Patricia Grünberg ist Verwaltungsleiterin und Director G&A des Barkhausen Instituts. Dr. Tim Hentschel agiert als Managing Director des Barkhausen Instituts. Weitere Informationen zur Arbeit von Frau Grünberg und Herrn Hentschel erhalten Sie hier.