Der deutsch-palästinensische Filmemacher
Von Martin Klingst
In Kuweit, wo er 1977 zur Welt kam, wuchs Rashad Alhindi eigentlich wie ein halber Amerikaner auf. Große gelbe Schulbusse der Marke Chevrolet, so wie sie überall in den USA herumfahren, brachten ihn zum Unterricht in eine christliche Nonnenschule. Der Sohn palästinensischer Flüchtlinge lernte nach dem amerikanischen Schulsystem, sprach breites Amerikanisch, liebte Hamburger von Hardee‘s und frittierte Hähnchenschenkel von Kentucky Fried Chicken. Alhindi trug Bluejeans, hörte Michael Jackson, Madonna und begeisterte sich für amerikanische Blockbuster, besonders für ET und Serien wie Knight Rider.
„Kuweit war der 51. Bundesstaat der USA,“ lacht Rashad Alhindi, der seit einem Vierteljahrhundert in Deutschland lebt, seit 13 Jahren Deutscher ist und heute als Filmemacher und Journalist in Lüneburg wohnt. Rund 200 000 Palästinenser gab es damals in Kuweit, für viele von ihnen waren die Vereinigten Staaten das Traumziel, sie wollten dort studieren, arbeiten, vielleicht dauerhaft bleiben. Auch Rashad Alhindis bester Jugendfreund ging in die USA und wurde Amerikaner.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr lebte Alhindi mit seinen Eltern und Geschwistern im Ölscheichtum Kuweit. In der Nachbarschaft tobte seit 1980 ein furchtbarer Krieg zwischen Irak und Iran, Hunderttausende von Menschen kamen ums Leben, manche Quellen sprechen sogar von bis zu einer Million. Für Alhindi war dieser erste Golfkrieg weit weg, als Kind bekam er so gut wie nichts von ihm mit, außer dass irgendwann einmal neben seiner Schule eine Rakete einschlug. Offenbar ein Irrläufer aus dem Iran. Zum Glück war an diesem Tag gerade schulfrei.
Auch Palästina, das heutige Israel, aus dem seine Eltern im Sommer 1948 von jüdischen Milizen vertrieben worden waren, sagte ihm als Kind wenig. Zwar erzählte der Vater immer mal wieder sehnsuchtsvoll von Tirat Alkarmel, seinem kleinen Geburtsort am Mittelmeer, und von der „schönen Stadt Haifa“ gleich nebenan. Auch sagte Rashad Alhindis Großmutter, die Mutter seiner Mutter, stets voller Stolz: „Ich bin Palästinenserin“. Aber was es hieß, nicht mehr zurück in die Heimat zu können, verstand er das erste Mal, als er ungefähr acht war. „Jedenfalls ein bisschen.“
Immer wenn es in Kuweit Ferien gab, reisten seine syrischen Mitschülerinnen und Mitschüler nach Syrien. Auch die Alhindis fuhren nach Syrien, in der Hauptstadt Damaskus lebten Verwandte. „Hör mal,“ fragte Rashad Alhindi irgendwann seine Mutter, „Ihr sagt doch immer, wir seien Palästinenser, warum also geht es für uns im Urlaub immer nur nach Syrien und nie nach Palästina?“ Seine Mutter nahm ihn in den Arm und sagte tieftraurig: „Rashad, da können und da dürfen wir nicht mehr hin.“
Im Sommer 1988, zwei Tage vor dem Ende des irakisch-iranischen Kriegs, beschloss der Vater, Kuweit zu verlassen und mit der Familie nach Syrien umzusiedeln. Die Alhindis zogen in den Stadtteil Jamurk, ein quirliges Viertel am Rand von Damaskus. Jamurk war einst als Flüchtlingslager für Palästinenser aus dem Boden gestampft worden, weit mehr als Hunderttausend hatten dort Zuflucht gefunden. Doch längst lebten hier auch viele syrische Familien, Jamurk war inzwischen ein ganz normaler Stadtteil mit festen Häusern und Geschäften, Schulen, Märkten und kleinen Handwerksbetrieben.
Der einzige Unterschied: Palästinenser waren nach wie vor Flüchtlinge, bloße Gäste, auch nach Jahrzehnten noch. Sie durften in Syrien leben, lernen, arbeiten, ein Haus bauen, einen eigenen Betrieb gründen, aber nicht wählen. In Syrien wies sie eine Art Passersatz als „Palästinensische Flüchtlinge“ aus, außerhalb galten sie, weil Palästina kein eigener Staat ist, als Staatenlose. „Wir gehörten und gehören nie wirklich dazu,“ sagt Alhindi, „und stehen in vielen Ländern des Mittleren und Nahen Ostens bis heute unter der Obhut von UNWRA, dem Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge.“ Die Schule, auf die Rashad Alhindi in Jamurk bis zur 9. Klasse ging, war eine von UNWRA geführte Schule.
Den Alhindis ging es gut in Syrien, sie hatten Arbeit und wohnten in einem schmucken Haus, in dem sie sich wohlfühlten. Die Kinder verstanden darum nicht, warum ihr Vater sich ständig über das Haus lustig machte und es eine „Sardinenbüchse“ nannte.
Nach dem Abitur studierte Rashad Alhindi in Damaskus Englisch und Deutsch und belegte am Goethe-Institut einen zusätzlichen Deutschkurs. Für ihn stand früh fest: Er wollte so schnell wie möglich in Deutschland studieren. Seine Neugier auf das ferne Land war schon als Kind geweckt worden. In der kleinen Bibliothek seines Vaters standen immer eine Handvoll Bücher über Deutschland, über die Geschichte, Wirtschaft und Kultur. Mit Zwanzig erhielt Alhindi das ersehnte Studentenvisum, zog nach Saarbrücken – und blieb.
Noch 1991 hatte er die Befreiung Kuweits durch die Armee der Vereinigten Staaten gefeiert.
Es war in den Jahren davor, in der Zeit in Jamurk, als der halbe Amerikaner Rashad Alhindi seinen Glauben an die USA verlor. Noch 1991 hatte er die Befreiung Kuweits durch die Armee der Vereinigten Staaten gefeiert. Der Irak hatte Kuweit überfallen und annektiert. Mit einem UN-Mandat ausgestattet, schmiedeten die USA ein breites Militärbündnis gegen den irakischen Präsidenten Saddam Hussein, auch arabische Staaten wie Ägypten, Syrien und Saudi Arabien beteiligten sich. Die Alhindis hassten den Despoten Hussein.
Doch dann sickerten allmählich schlimme Nachrichten von diesem zweiten Golfkrieg durch, die Rashad Alhindi schwer schockierten. Sein Amerikabild bekam tiefe Risse. Am 13. Februar 1991 hatte die US-Luftwaffe in der irakischen Hauptstadt Bagdad einen riesigen Bunker bombardiert – angeblich weil die irakische Armee dort eine Kommandozentrale unterhielt. Doch der Bunker war in erster Linie ein Schutzraum für Zivilisten, was offenbar auch das amerikanische Militär wusste, wie später bekannt wurde. Hunderte von Menschen starben bei dem Angriff, Alhindi sah Bilder von zerfetzten Frauen und Kindern. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch und viele internationale Beobachter stuften das Bombardement als ein Kriegsverbrechen ein. Aber kein dafür verantwortlicher Amerikaner wurde je vor Gericht gestellt.
Rashad Alhindi fand das zutiefst ungerecht. „Zum ersten Mal,“ sagt er, „dachte ich, die Vereinigten Staaten nehmen sich als Supermacht heraus, was sie anderen Ländern niemals erlauben würden.“ Dieser Eindruck setzte sich fort, als das hauptsächlich von den USA verhängte Irak-Embargo unzählige Iraker in die Armut trieb. Und er verhärtete sich „zu einer Gewissheit“, wie Alhindi sagt, als die Vereinigten Staaten 2003, im sogenannten dritten Golfkrieg, im Irak einmarschierten und das Land besetzten. Dieses Mal eigenmächtig, ohne UN-Mandat und auf der Grundlage fingierter Beweise, um nicht zu sagen: eindeutiger Lügen. Hunderttausende von Menschen verloren ihr Leben in diesem Krieg, auch ein Jugendfreund Alhindis starb bei einem amerikanischen Bombenangriff auf Bagdad.
Immer mehr muslimische Araber und Araberinnen gewannen den Eindruck, Amerika führe unter Präsident George W. Bush nicht nur einen Krieg gegen Saddam Hussein, sondern einen Kreuzzug gegen ihre Religion
Im Irak folterten und erniedrigten amerikanische Soldaten muslimische Gefangene. Die Bilder dieser Verbrechen in Abu Ghraib erschütterten die gesamte Welt, wurden in den sozialen Medien millionenfach geklickt und lösten gewaltige wie gewaltsame Proteste aus. Immer mehr muslimische Araber und Araberinnen gewannen den Eindruck, Amerika führe unter Präsident George W. Bush nicht nur einen Krieg gegen Saddam Hussein, sondern einen Kreuzzug gegen ihre Religion. Für Alhindi war es deshalb kein Wunder, dass sich, wie er sie nennt, „rechtsradikale islamistische Gruppen“ wie der IS gründeten und in den Kampf gegen die USA zogen. Amerika, sagt er, sei mit schuld an deren Entstehung.
Rashad Alhindi lebte da schon seit vielen Jahren in Deutschland. Er hatte viele Freunde an der Uni in Saarbrücken, auch einige Amerikaner, denen er, wie er sagt, „ganz selbstverständlich“ nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sein Mitgefühl bekundete. Er habe diese Attentate „absolut furchtbar“ gefunden – ebenso wie zwanzig Jahre später Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022.
Russlands Präsident Wladimir Putin, sagt Alhindi, sei „ganz klar ein Kriegsverbrecher“, aber nicht mehr und nicht weniger als der ehemalige US-Präsident George W. Bush, der den völkerrechtswidrigen Angriff auf den Irak befohlen habe. „Warum,“ fragt Alhindi, „werden die Vereinigten Staaten für ihre Verbrechen nicht zur Verantwortung gezogen? Weil sie eine Supermacht sind? Weil ihre Opfer im Irak und in Afghanistan Muslime sind und darum weniger zählen?“
Nein, er sei kein Antiamerikaner, sagt Rashad Alhindi. Auch wenn er noch nie in den USA gewesen sei, verstehe er, warum das Land so viele Menschen, auch so viele Palästinenser, in den Bann ziehe. Die Freiheiten, die Chancen, die Amerika gewähre, die Vielfalt der Menschen dort – das sei schon einzigartig. Alhindi sagt, er wisse auch um die großen Verdienste der USA im und nach dem Zweiten Weltkrieg. „Ohne die Opfer und die Hilfe der Vereinigten Staaten,“ sagt er, „würde ich heute wahrscheinlich nicht in einer deutschen Demokratie leben.“
„Nach allem, was ich und meine Familie erleben mussten, konnte ich nur zu einem großen Amerikaskeptiker werden, zu einem, der diesem Land zutiefst misstraut.“
Das sei die eine Seite Amerikas, die andere: „Nach allem, was ich und meine Familie erleben mussten, konnte ich nur zu einem großen Amerikaskeptiker werden, zu einem, der diesem Land zutiefst misstraut.“ Die USA, sagt Alhindi, hätten den Arabern und seinem Volk, den Palästinensern, „weit mehr Schlechtes als Gutes“ gebracht.
2016 fuhr Rashad Alhindi zum ersten Mal nach Palästina, in die Heimat seiner Eltern, in das heutige Israel. Er besuchte den kleinen Ort Tirat Alkarmel, wo sein Vater und seine Mutter zur Welt gekommen waren. Das Haus der Alhindis stand nicht mehr, aber er entdeckte noch eine Handvoll übriggebliebener palästinensischer Gebäude aus der Zeit vor 1948 und verstand auf einmal, warum sein Vater das Haus im syrischen Jamurk eine „Sardinenbüchse“ genannt hatte. In Palästina waren die Alhindis sogenannte Vorstadtbauern gewesen und hatten ein großes Gehöft mit viel Platz für alle in der Familie.
In der Nachbarschaft lebten auch viele Juden. Doch 1947 beschlossen die Vereinten Nationen, Palästina zu teilen, der erste arabisch-israelische Krieg brach aus, die Hagana, das zionistische Militär, das später in der israelischen Armee aufging, nahm im April 1948 als erste Stadt Haifa und dann auch Tirat Alkarmel ein. Rashad Alhindi sagt, das sei der Anfang der Nakba gewesen, der „Katastrophe“ für alle Palästinenserinnen und Palästinenser. Die Supermacht USA hätte sie verhindern können. Für Alhindi hätte es auch eine andere Möglichkeit als die Teilung gegeben, zum Beispiel einen gemeinsamen Staat, in dem Palästinenser und Juden gleichberechtigt miteinander leben. An dieser Idee hängt er bis heute und engagiert sich dafür mit etlichen Palästinensern und Israelis.
Mehr als 700 000 Palästinenser mussten 1948 fliehen. Auch die Alhindis ließen alles zurück, Rashads Vater war damals acht, seine Großmutter 19 Jahre, seine Mutter sieben Monate alt. Als Rashad Alhindi fast siebzig Jahre später das Land seiner Vorfahren betrat, fühlte er sich zum ersten Mal nicht als Fremder. Überall sonst, sagt er, sei er immer nur Gast oder Flüchtling gewesen, in Kuweit, in Syrien, in Deutschland. Doch in Israel hätten ihn die Menschen nicht „durch diese Brille“ gesehen. Die dort lebenden Palästinenser hätten ihm das Gefühl vermittelt, dass er dorthin gehöre, „dass ich einer von ihnen bin“. Auch viele jüdische Israelis, vor allem die liberalen unter ihnen, hießen ihn im Land willkommen.
Alhindi findet es „wirklich schlimm“, dass die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten „ihre schützende Hand“ über alle israelischen Regierungen halten.
Alhindi findet es „wirklich schlimm“, dass die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten „ihre schützende Hand“ über alle israelischen Regierungen halten. Dass sie dem Land Jahr für Jahr viele Milliarden Dollar für den Kauf von Waffen zahlen würden, „mit denen Palästinenser bedroht, verletzt, getötet, eingesperrt und weiter vertrieben werden“. Wie solle er da nicht wütend auf die USA und zu einem „grundlegenden Amerikaskeptiker“ werden? Und ein bisschen dieser Wut richtet sich auch gegen Deutschland. Lange habe er die Deutschen dafür bewundert, wie intensiv sie sich mit ihrer Kriegsschuld und ihren Verbrechen an den Juden auseinandergesetzt haben. „Ich glaube,“ sagt er, „sie sind die einzige Nation, die das so tiefgehend getan hat.“
Seit einigen Jahren aber nimmt Alhindi hierzulande eine wachsende feindselige Haltung gegenüber Palästinensern und Muslimen wahr. Es gehe vielen Deutschen nicht mehr allein darum, Judenfeindlichkeit in allen ihren schrecklichen Formen zu ahnden, sagt er. „Die uneingeschränkte Solidarität gegenüber Israel diene so manchen, sich von der historischen Schuld reinzuwaschen, andere lebten unter dem Deckmantel der Antisemitismus-Bekämpfung ihren Rassismus gegenüber Palästinensern aus.“ Das sei gefährlich.
Aber zurück zu den USA: Rund achtzig Mal, sagt Alhindi, hätten sie bislang ihr Veto gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats eingelegt. „Raten Sie mal, wie oft sie dabei mit ihrem Nein ein palästinensisches Anliegen blockierten? In der Hälfte aller Fälle!“ Nicht einmal die Entsendung von UN-Beobachter in die von Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 besetzten palästinensischen Gebiete, also ins Westjordanland und in den Gaza-Streifen, hätten die USA zugelassen.
Alhindis Anklageliste ist lang, sehr lang. Nur einige Beispiele: US-Präsident Donald Trumps Entscheidung, Amerikas Botschaft in Israel von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, in jene Stadt, die Israel widerrechtlich als seine „ungeteilte Hauptstadt“ reklamiert. Oder Washingtons ungebremste Unterstützung für Saudi Arabien, das im Jemen einen grausamen Krieg führt. Oder Barack Obamas Wortbruch im syrischen Bürgerkrieg; 2012 hatte der US-Präsident dem syrischen Präsidenten Assad mit Militärschlägen gedroht, sollte dieser gegen seine seit 2011 revoltierende Bevölkerung Giftgas einsetzen, was er nachweislich tat. Doch Obama hielt sein Versprechen nicht ein.
Auch in Jamurk demonstrierten damals viele Bewohner, auch viele Palästinenser, gegen den Diktator Assad und die mit ihm verbündete und das Stadtviertel kontrollierende Splittergruppe „Volksfront zur Befreiung Palästinas – Generalkommando“ (PFLP-GC). Etliche Aufständische schlossen sich der Widerstandsbewegung „Freie Syrische Armee“ an. Jamurk wurde von der islamistischen Terrorgruppe IS eingenommen, Assad kündigte die Rückeroberung an und ließ das Viertel mit Hilfe der russischen Luftwaffe bombardieren.
Erschütternde Bilder gingen um die Welt, der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nannte Jamurk ein Todeslager, eine Tragödie epischen Ausmaßes. Zigtausende Menschen kamen ums Leben, Hunderttausende flohen, viele kamen nach Deutschland. Alhindi hat über die Belagerung und Zerstörung Jamurks und die anschließende Flucht einen bewegenden Dokumentarfilm gedreht mit dem Titel „Die Deutschländer“.
Auch das Haus der Alhindis wurde getroffen, wahrscheinlich von einer russischen Rakete. Die Familie musste abermals fliehen. Alhindi wird den USA niemals verzeihen, dass sie mit ihrem Militär zwar ihre syrischen Ölquellen gesichert hätten, die Menschen aber dem Terror überließen. Rashad Alhindi sagt, mit der Vertreibung seiner Eltern aus Palästina sei auch er schon 29 Jahre vor seiner Geburt zum Flüchtling geworden. „Wie für so viele war das offenbar meine Bestimmung, ist es mein Schicksal. Das mächtige Amerika hat das alles geschehen lassen.“