Die Amerikaskeptiker

Der ehemalige Bundesminister

Von Martin Klingst

Foto: Katharina Draheim

In wohl kaum einer anderen deutschen Biografie spiegelt sich das Auf und Ab der politischen Stimmungslagen gegenüber Amerika eindrucksvoller und bildhafter wider als in den nunmehr 91 Lebensjahren von Otto Schily. Mal fühlte er sich von den Vereinigten Staaten angezogen, mal abgestoßen. Er selbst spricht vom einem „ständigen Wechselbad der Ereignisse und des Erlebens“. 1932 kam Schily in Bochum zur Welt, seitdem waren die USA für ihn Befreier und Besatzer, Freiheitsidol und Unterdrücker, Wohltäter und egoistische Weltmacht.

Otto Schily, Bürgersohn, Strafverteidiger, Bundestagsabgeordneter erst der Grünen, dann der SPD, Bundesinnenminister, hat alle diese Phasen erlebt und oft politisch Stellung bezogen, als scharfer Kritiker, aber auch als Unterstützer der Vereinigten Staaten. In der Regierung von Kanzler Gerhard Schröder hielt Schily engen Draht nach Washington. Die USA standen damals im Zentrum des politischen Streits. Nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 hatten der US-Kongress und Präsident George W. Bush eine Reihe scharfer Antiterrorgesetze erlassen, woraufhin einige von Schilys ehemaligen grünen Weggefährten und ebenso manche Sozialdemokraten die Bundesregierung aufforderten, auf Abstand zu den USA gehen.

Doch Innenminister Schily übte sich im transatlantischen Schulterschluss und befürwortete den Einmarsch der USA in Afghanistan. Allerdings mahnte er früh, dass „Terrorismusbekämpfung mit Flächenbombardements nicht funktioniert“, kritisierte das US-Militärgefängnis Guantánamo sowie Folter-Verhöre mutmaßlicher Terroristen, auch verurteilte er 2003 den Einmarsch der US-Armee in den Irak. Doch anders als einige seiner Kabinettskollegen ließ Schily selbst in diesen schwierigen Jahren der deutsch-amerikanischen Beziehungen den Kontakt zur amerikanischen Regierung nicht abreißen. „Schily war damals“, sagt ein ehemaliger ranghoher US-Beamter, der namentlich nicht genannt werden möchte, „unser bester Mann in Berlin.“

Gleichwohl ist Schily in seinem Innersten ein Amerikaskeptiker, einer, der der Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten tief misstraut. Wie seinerzeit Amerikas Irakkrieg so hält er jetzt zwar auch Russlands Ukrainekrieg für einen „schlimmen Akt der Aggression“ und einen „eklatanten Völkerrechtsbruch“. Doch im Gegensatz zur Führungsspitze seiner Partei sieht der Sozialdemokrat in den „von den USA angeführten und immer weitreichenderen Waffenlieferungen des Westens“ eine „gefährliche Eskalation“. Schily ist strikt gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine, plädiert für einen Neutralitätsstatus des Landes ähnlich der Schweiz und findet es einen „fatalen Fehler“, dass die USA nicht die Initiative für Friedensverhandlungen ergreifen.

Schily sagt, er könne durchaus nachvollziehen, warum Staaten wie Indien, Brasilien oder Südafrika sich weigern, in diesem Krieg Partei für den Westen zu ergreifen. „Ihre bitteren Erfahrungen erst mit dem europäischen Kolonialismus, dann mit der amerikanischen Großmachtpolitik wirken immer noch nach.“

Wann immer sich Otto Schily in den vergangenen Jahrzehnten zur Politik der Vereinigten Staaten geäußert hat, wurde er mal von rechts als „Amerikafeind“, mal von links als „Vasall der USA“ beschimpft. Für ihn ein Beweis, dass er richtig gelegen hat. Auch mit fast 91, sagt Schily, wolle er sich seine nüchtern-distanzierte, skeptische Haltung bewahren – „nicht nur gegenüber den USA, sondern bei möglichst allen politischen Themen“.

Otto Schily im Wortlaut:

In meinen ersten dreißig Jahren hatte ich überwiegend positive Erfahrungen mit Amerika. Als Kind wusste ich allerdings so gut wie nichts über das Land. Es gab damals kein Fernsehen, keine vernünftigen Zeitungen, keine verlässlichen Rundfunknachrichten, abgesehen vom BBC, dessen Informationssendungen zu hören jedoch streng verboten war. Über das politische Geschehen sprachen die Erwachsenen meist im Flüsterton. Erst später habe ich erfahren, dass mein Großvater Leo Schily einst nach Amerika ausgewandert und enttäuscht nach Deutschland zurückgekehrt war. Er hatte in der Neuen Welt keinen Erfolg gehabt, was er sich wohl eher selbst als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zuzuschreiben hatte.

Mein Amerika-Bild wurde in meiner Kindheit hauptsächlich von ‚Indianer‘-Büchern geprägt, allen voran von ‚Lederstrumpf‘, diesem spannenden, aber elegisch endenden Romanzyklus des Amerikaners James Fenimore Cooper. Hingegen waren ‚Winnetou‘, ‚Old Shatterhand‘, ‚Der Schatz im Silbersee‘, die Werke des deutschen Autors Karl May, bei uns zu Hause als Kitsch verpönt.

Meine Mutter, eine wunderbare Frau, hatte ein tiefgehende Zuneigung zu den ‚Indianern‘ entwickelt, zu den Ureinwohner Amerikas, die heute Native Americans oder First Nation heißen. Sie hatte sich in ihrer Jugend sogar einen ‚indianischen‘ Namen zugelegt und nannte sich Wahita. In ihrer Bibliothek standen hochinteressante wissenschaftliche Darstellungen dieser indigenen Kultur. Vom neuen, dem modernen Amerika hatte ich seinerzeit nur schemenhafte Vorstellungen.

‚Realen‘ Amerikanern bin ich zum ersten Mal als Dreizehnjähriger begegnet, zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Unsere Familie – mit Ausnahme meines Vaters, der in Bochum bleiben musste – lebte damals im bayerischen Garmisch-Partenkirchen. Ein mutiger deutscher Offizier, Oberst Ludwig Hörl, hatte gegen den Widerstand der SS und unter Missachtung anderslautender Befehle der deutschen Heeresleitung dafür gesorgt, dass die Stadt Ende April 1945 der US-Armee kampflos übergeben wurde.

Die einrückenden Truppen der Amerikaner habe ich noch heute vor Augen, die Soldaten saßen entspannt auf ihren Panzern, spielten fröhlich Gitarre und warfen den Kindern Bonbons und Schokolade zu.

Die einrückenden Truppen der Amerikaner habe ich noch heute vor Augen, die Soldaten saßen entspannt auf ihren Panzern, spielten fröhlich Gitarre und warfen den Kindern Bonbons und Schokolade zu. Als unwürdig empfand ich, dass dieselben Deutschen, die noch kurz zuvor mit den Nazi-Bonzen paktiert hatten, auf einmal die Amerikaner mit Beifall begrüßten. Aber selbstverständlich überwog unsere Erleichterung darüber, dass mit dem Einzug der US-Armee der Krieg und die Nazi-Herrschaft zu Ende war.

Wir Kinder waren damals sehr ausgehungert und bettelten mit unseren Kochgeschirren vor amerikanischen Zeltlagern um Essensreste. Die meist sehr freundlichen US-Soldaten gaben uns bereitwillig von ihrer Suppe. Bei den weniger freundlichen blieben unsere Schüsseln leer, und das Essen wurde vor den hungrigen Kindern ins Feuer gekippt.

Die Amerikaner beschlagnahmten damals unser Partenkirchener Haus, um dort Soldaten einzuquartieren. Ich erinnere mich noch, wie ein US- Offizier erschien und meiner Mutter befahl, unsere Kamera herauszurücken, eine wertvolle Rolleiflex. Irgendein Nachbar muss ihm einen Tipp gegeben haben. Ich hatte den Fotoapparat an einem sicheren Platz versteckt und war mir sicher, dass er dort keinesfalls entdeckt werden konnte. Doch zu meinem großen Erschrecken hielt der Offizier meiner Mutter eine Pistole an die Schläfe. Da bin ich wie ein Hase losgerannt und habe die Rolleiflex geholt. Ja, es gab einige unerfreuliche Erlebnisse, aber die guten überwogen bei weitem.

Ein Jahr nach Kriegsende kehrte unsere Familie nach Bochum zurück und mein insgesamt positives Bild der Vereinigten Staaten verstärkte sich. Mein Vater meinte damals sogar, das Beste, was Deutschland passieren könnte, wäre, als 51. Bundesstaat in die USA eingegliedert zu werden. Er war der Ansicht, dass unser Land nach den grauenhaften Verbrechen der Nazizeit geistig-kulturell, politisch und wirtschaftlich von Grund auf neu aufgebaut werden müsse. Wir erhielten Care-Pakete aus Amerika, lasen Reader‘s Digest und das National Geographic Magazine, ‚Die Abenteuer des Tom Sawyer‘ von Mark Twain und Harriet Beecher Stowes ‚Onkel Toms Hütte‘, auch Abhandlungen über den großen amerikanischen Erfinder Thomas Alva Edison – alles gute Erinnerungen.

Wie alle meine Freunde jener Zeit wurde auch ich ein Amerika-Enthusiast. Ich spielte in einer Jazz-Band, leider nur mit meinem Cello und nicht mit einem Kontrabass, begeisterte mich für Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Gershwin und wie sie alle hießen, auch für den amerikanischen Film und für US-Stars wie Rita Hayworth, Liz Taylor, Humphrey Bogart, James Dean und so weiter.

Wir trugen Bluejeans, tranken Coca-Cola, rauchten Lucky-Strike-Zigaretten, kauten Chewing Gum. Wir schwärmten von den riesigen amerikanischen Straßenkreuzern, ein Cadillac galt als das Nonplusultra, ebenso ein Motorrad von Harley Davidson. Es herrschte eine regelrechte Adaption des American Way of Life. Die Vereinigten Staaten mit ihren unendlichen Weiten, den Wolkenkratzern, dem Grand Canyon und der offenbar grenzenlosen Freiheit waren das Traumland.

Als Präsident John F. Kennedy 1963 seine berühmte Rede hielt, kletterte ich auf einen Laternenmast und jubelte ihm zu.

Selbst in meiner Studienzeit in München und später in Hamburg und Berlin wuchs meine Begeisterung für Amerika. Zunächst jedenfalls. Gerne wäre ich für ein Austauschjahr dorthin gegangen. Mein Vater war Mitglied im Rotary Club und der Verein vergab Stipendien. Leider waren meine Zwischenzeugnisse im Jurastudium ziemlich bescheiden, und so wurde nichts daraus.

Das kulturelle Amerika hatte für mich schon früh große Anziehungskraft – und das politische? Auch dafür hatte ich lange Zeit große Sympathien, besonders nach meinem Umzug nach Berlin. Als Präsident John F. Kennedy 1963 seine berühmte Rede vom Balkon des Schöneberger Rathauses hielt, kletterte ich auf einen Laternenmast und jubelte ihm zu. Der Bau der Mauer 1961 hatte meine schon lange bestehende ablehnende Haltung gegenüber der Sowjetunion und der DDR weiter vertieft. Unsere Helden waren die Amerikaner, sie hatten uns nicht nur von den Nazis befreit, wofür ich ihnen bis ans Ende meines Lebens dankbar sein werde, sondern sie waren für uns vor allem auch die Garanten der Freiheit und der Demokratie.

Mit dem Vietnamkrieg jedoch verdüsterte sich mein Blick auf die Vereinigten Staaten.

Mit dem Vietnamkrieg jedoch verdüsterte sich mein Blick auf die Vereinigten Staaten. Dieser Krieg, den Amerika in Fortsetzung des langjährigen französischen Kolonialkrieges führte, gehört zu den grausamsten des vergangenen Jahrhunderts, forderte Millionen von zivilen Opfern. Nach wissenschaftlichen Schätzungen hat die US Air Force in Vietnam zwischen 1965 und 1971 zwei bis dreimal so viel Bombenmunition (bis zu sieben Millionen Tonnen) abgeworfen wie im gesamten Zweiten Weltkrieg. Die verstörenden Fotos US-amerikanischer Massaker an der Zivilbevölkerung – wie zum Beispiel in Mỹ Lai – haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt.

In jenen Jahren entwickelte ich zunehmend eine kritische Distanz zu den Vereinigten Staaten, genauer gesagt: zur Politik der US-Regierung in verschiedenen Regionen und Konflikten dieser Welt. Die Interventionen der USA in Südamerika zu Gunsten reaktionärer politischer Kräfte, die Beteiligung der Vereinigten Staaten am Sturz des demokratisch gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mossadegh, die Etablierung des Folterregimes des persischen Shahs oder Amerikas Komplizenschaft bei der Ermordung des kongolesischen Politikers Patrice Lumumba – das alles sind nur einige Beispiele, die das Idealbild von Amerika in Frage stellten.

Dass ich mich in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts intensiver als zuvor mit den Schattenseiten US-amerikanischer Politik auseinandergesetzt habe, ist nicht zuletzt das Ergebnis vieler Gespräche und Begegnungen mit Menschen der sogenannten 68er Bewegung. Sie haben wesentlich dazu beigetragen haben, dass ich mich zu einem dezidiert Linksliberalen entwickelte, ohne zu einem Sozialisten oder erst recht zu einem Marxisten zu mutieren. Die Marx Brothers aus Amerika haben mich stärker beeinflusst als kommunistische Klassiker wie Karl Marx und Friedrich Engels, deren Werke ich nur höchst oberflächlich gelesen habe.

Die Abkühlung meiner Amerika-Begeisterung erklärt sich nicht zuletzt aus der großen Enttäuschung darüber, dass die Vereinigten Staaten mit ihrer Politik allzu oft ihren eigenen Idealen von Freiheit, Menschenrechten und Demokratie zuwidergehandelt haben. Doch meine Kritik der US-Politik ist nie in kruden Antiamerikanismus umgeschlagen. Schon deshalb nicht, weil diese Kritik in deutlichster Form gerade in den USA selbst artikuliert wurde. Martin Luther King, Daniel Ellsberg, Jane Fonda, Joan Baez und viele andere waren für uns leuchtende Vorbilder, waren Repräsentanten des anderen, besseren Amerika, dem wir uns verbunden fühlten.

Die Jüngeren werden es nicht mehr erinnern: Mit dem Terror der Roten Armee Fraktion erfuhr der Protest gegen den Vietnamkrieg in Deutschland eine extreme Zuspitzung, die RAF suchte ihre Anschläge als Unterstützungsaktionen für das vietnamesische Volk zu rechtfertigen. Das wurde in den Siebzigern auch Thema im Stuttgarter Strafprozess gegen führende Mitglieder der RAF. Ich war einer der Strafverteidiger und habe in den Verhandlungen die US-Regierung wegen des Vietnamkrieges äußerst scharf angegriffen. Ich habe den damaligen amerikanischen Präsidenten Richard Nixon einen Kriegsverbrecher genannt und wollte ihn als Zeugen vor Gericht laden lassen.

Voraussehbar lehnte das Gericht meinen Antrag ab, und sicherlich war meine Wortwahl gegenüber der amerikanischen Regierung in der Hitze des Gefechts in der ein oder anderen Richtung überzogen. Aber es ging mir darum zu zeigen, dass die USA in Vietnam Völkermord begingen, dass sie einen brutalen und völkerrechtswidrigen Krieg führten mit unermesslichen Opfern in der Zivilbevölkerung und verheerenden Umweltzerstörungen infolge des Einsatzes von Chemiewaffen wie Agent Orange. Und es ging darum, erkennbar werden zu lassen, dass der Vietnamkrieg, den einige führende deutsche Politiker absurderweise als einen ‚Kampf für die Freiheit‘ bagatellisierten, dass dieser mörderische Krieg damals einige junge Menschen dazu bewogen hat, den Irrweg terroristischer Gewalt zu wählen.

Meine zunehmend kritischere Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten ist auf viele Faktoren zurückzuführen, ohne dass meine im Grundsatz positive Sicht auf Amerika verloren gegangen ist.

Bis heute bin ich davon überzeugt, dass der Vietnamkrieg ein Verbrechen war. Daran änderte sich auch nichts durch die Feststellung, dass der kommunistische Vietcong in nicht wenigen Fällen ebenfalls Kriegsverbrechen begangen hat. Es ist eine traurige Tatsache, dass Grausamkeiten gewissermaßen das Wesensmerkmal von Kriegen sind.

Meine im Laufe der Zeit zunehmend kritischere Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten ist auf viele Faktoren zurückzuführen, ohne dass meine im Grundsatz positive Sicht auf Amerika und viele seiner Errungenschaften verloren gegangen ist. Dank der Erziehung meiner Eltern und ihrer anthroposophisch geprägten Weltsicht erwarb ich schon früh ein Naturverständnis, wie es heute weithin in der biologisch-dynamischen Landwirtschaft praktiziert wird, die aber ein Gegenmodell ist gegenüber der amerikanischen industrialisierten Agrarwirtschaft. Umso größeren Anklang fand daher in meiner Familie das Buch ‚Silent Spring‘ der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson.

Das eindrucksvolle Werk hat in Deutschland erst sehr viel später, in den achtziger Jahren, größere Resonanz gefunden in der allmählich erstarkenden Umweltbewegung, die mit der Partei „Die Grünen“ politische Gestalt annahm. Dass diese Parteigründung, an der ich beteiligt war, so erfolgreich wurde, ist zuallererst ein Verdienst von Petra Kelly, einer charismatischen Persönlichkeit von großer Ausstrahlungskraft. Kelly war in den USA aufgewachsen, hatte dort Politikwissenschaften studiert und sich viel von den Methoden des gewaltfreien Widerstands der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung angeeignet. Bei ihren politischen Aktionen in Deutschland wie im Ausland setzte sie diese Erfahrungen äußerst effektvoll ein. Man kann also sagen: Historisch gesehen hat die außergewöhnliche Erfolgsgeschichte der Grünen in der Person von Petra Kelly ihren Ursprung in den USA – jedenfalls in einem gewissen Umfang.

Neben der Umwelt war auch die Wahrung des Weltfriedens das beherrschende Thema der Grünen. In der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Nato und Warschauer Pakt und der Aufstellung nuklearer Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs sah die Friedensbewegung, sah auch ich eine ernste Bedrohung des Weltfriedens. Unser Protest richtete sich vor allem gegen die Stationierung von atomaren US-Mittelstreckenraketen auf dem Boden Westdeutschlands. An der Debatte, ob diese Stationierung zu verantworten war, habe ich mich seinerzeit mit bisweilen sehr engagierten und ziemlich robusten Parlamentsreden und mit vehementer Kritik sowohl an der US-amerikanischen als auch an der Politik der damaligen Bundesregierung beteiligt.

Das Ergebnis dieser Debatte wird heute bekanntlich unterschiedlich interpretiert. Viel spricht dafür, dass die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden die Sowjetunion dazu bewogen hat, auf Abrüstungsverhandlungen einzugehen mit der Folge, dass diese Waffen wieder abgezogen wurden. Meiner Meinung nach hat jedoch die Friedensbewegung mindestens indirekt erheblich dazu beigetragen, dass Abrüstungsverhandlungen überhaupt in Gang kamen und erfolgreich abgeschlossen werden konnten, zumal die Grünen – allen voran Petra Kelly – sich mehrheitlich sowohl gegen die atomare Aufrüstung im Westen als auch im Osten wandten.

Ebensowenig habe ich meine Grundüberzeugung geändert, dass die Strategie des atomaren Gleichgewichts, auch „mutual assured destruction“ genannt, also die wechselseitige Bedrohung mit dem Weltuntergang, ein höchst gefährliches, labiles Konstrukt ist. Diese Strategie bringt uns immer wieder an den Rand einer Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes.

Rückblickend ist mein Verhältnis zu Amerika stets ambivalent geblieben. Ich unterstützte nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 die US-Intervention in Afghanistan, aber lehnte den Einmarsch im Irak ab. In der Politik zählt man mich zu Recht zu den Transatlantikern, das heißt zu denen, für die enge freundschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika einen sehr hohen Rang einnehmen. Auf der anderen Seite wiederum setzte ich mich entschieden dafür ein, dass Europa einschließlich Deutschlands seine Eigenständigkeit festigt und sich nicht zum Vasallen der USA degradieren lässt.

Meine Bewunderung gilt nach wie vor den grandiosen Leistungen der USA in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, die im Weltmaßstab ihresgleichen suchen. Das hindert mich aber nicht, die deutlichen Trübungen dieses nur scheinbar in jeder Hinsicht glanzvollen Amerikabildes wahrzunehmen und zu benennen.

Der übersteigerte Weltherrschaftsanspruch, mit dem die USA versuchen, ihre eigenen Interessen oft zu Lasten anderer zur Geltung zu bringen, ist nicht zu übersehen.

Der übersteigerte Weltherrschaftsanspruch, mit dem die USA versuchen, ihre eigenen Interessen oft zu Lasten anderer zur Geltung zu bringen, ist nicht zu übersehen. Schon mit der Monroe-Doktrin und der Truman-Doktrin definierten die Vereinigten Staaten für sich unantastbare globale Einflusszonen. Umgekehrt jedoch billigen sie anderen Großmächten nicht zu, dass auch deren Interessen durch fundamentale Änderungen in deren unmittelbarer Nachbarschaft tangiert sein könnten. Nicht selten kommt leider der Verdacht auf, dass bestimmte politische Kräfte in den USA aufgrund ihrer Machtinteressen Konflikte eher schüren als bereinigen.

Ich hoffe daher, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika jene die Oberhand gewinnen, die in einer multipolaren Welt den friedlichen Ausgleich suchen und dem fairen Wettbewerb verpflichtet bleiben, statt auf Verdrängung und schlimmstenfalls auf Unterjochung zu setzen.

 

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