Der Parlamentarier
Von Martin Klingst
Es ist eher eine Ausnahme, dass Gregor Gysi die Vereinigten Staaten von Amerika verteidigt. Meist klagt der scharfzüngige Anwalt und außenpolitische Sprecher der Linken-Fraktion im Bundestag die Politik der Supermacht an, bezichtigt die USA wie etwa in Afghanistan oder im Irak der Kriegstreiberei und des Völkerrechtsbruchs. Dieses Großmachtgehabe, sagt er, sei ihm schon immer suspekt.
Doch als Anfang 2022 sieben Abgeordnete seiner Partei in einer öffentlichen Erklärung den Vereinigten Staaten und dem von ihnen geführten Nato-Bündnis eine „maßgebliche Mitverantwortung“ für den russischen Einmarsch in die Ukraine gaben, platzte Gysi der Kragen. Wütend schrieb er ihnen, „die völlige Emotionslosigkeit hinsichtlich des Angriffskrieges, der Toten, der Verletzten und dem Leid“, entsetze ihn. Sie seien offenbar nur daran interessiert, ihre alte Ideologie zu retten, nach der überkommenen Devise: „Die Nato ist böse, die USA sind böse, die Bundesregierung ist böse und damit Schluss für euch.“
Gysi sagt, die Strategie einiger Linker, sobald Russland am Pranger stehe, sofort mit dem Finger auch auf das „böse Amerika“ zu zeigen, demonstriere nur eins: „Whataboutism“ und die Relativierung der Verbrechen sowohl der einen als auch der anderen. Wladimir Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg, so Gysi, stehe für sich, sei „eine Zäsur“ und zwinge zu „neuem Nachdenken“. Was für ihn aber nicht heißt, dass damit seine eigene tiefe Skepsis gegenüber den USA ihre Berechtigung verloren hätte. Die hegte er schon, als er noch in der DDR lebte und im Dezember 1989, nachdem die Mauer gefallen war, die Führung der SED übernommen hatte, dieser ehemaligen sozialistischen Staatspartei, die anschließend erst in PDS und dann in Die Linke umbenannt wurde.
Gysi sagt, natürlich hätten die Vereinigten Staaten und der gesamte Westen schwere Fehler gegenüber Russland begangen. Wobei er großen Wert auf eine Unterscheidung legt zwischen den Amerikanern, also den Menschen, die er im Großen und Ganzen mag, und ihrem Staat, dessen Machtgebaren er oft unsympathisch und anmaßend findet. Wie ein „stolzer Gockel“ hätten die USA damit geprahlt, den Kalten Krieg gewonnen zu haben. US-Präsident Barack Obama habe Russland sogar herablassend eine bloße „Regionalmacht“ genannt – „ein fataler Fehler“.
Zu guter Diplomatie gehöre es nun einmal, „Rücksicht auf die Interessen und das Sicherheitsbedürfnis der anderen Seite zu nehmen“.
Mehr Feingefühl gegenüber Moskau, so Gysi, hätte wahrscheinlich manchen Konflikt eindämmen können. Zu guter Diplomatie gehöre es nun einmal, „Rücksicht auf die Interessen und das Sicherheitsbedürfnis der anderen Seite zu nehmen“. Gysi ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass der Westen nach dem Zerfall des Warschauer Pakts, „eine riesige Chance“ vertan hat. Seiner Meinung nach hätte damals nicht nur das östliche Verteidigungsbündnis, sondern auch die Nato aufgelöst werden müssen, um Platz zu machen „für eine völlig neue Sicherheitsstruktur in Europa“ – unter Beteiligung der Vereinigten Staaten und Russlands. Auch heute und in Zukunft, sagt Gysi, werde es Sicherheit und Frieden in Europa „niemals ohne und nie gegen Russland“ geben.
Und ungeachtet des Ukrainekriegs und der Stationierung russischer Atomraketen in Belarus hält Gysi auch an seiner alten Forderung fest, dass alle amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden sollten. Sein Argument: Die Deutschen wären dann sicherer, weil Amerikas Nuklearwaffen nicht nur ein russisches Spionageziel, sondern ebenso ein militärisches Ziel seien. Deutschland, nicht die Vereinigten Staaten würden atomar verseucht. „Es macht darum einen großen Unterschied,“ sagt Gysi, „ob hierzulande ein konventioneller oder ein nuklearer Krieg ausgetragen wird.“
Amerika, wohin im Laufe seiner Geschichte Millionen von Deutschen ausgewandert sind, Zigtausende auch noch während und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war für Gregor Gysi, den Bürger der DDR, lange ein fernes, unerreichbares Land. 1948 im von der Sowjetunion besetzten Ost-Berlin geboren, hätte er als Junge gerne mal in einem West-Berliner Kino Filme des britisch-amerikanischen Komiker-Duos „Dick und Doof“ geschaut. Als die Mauer noch nicht stand, ging das auch. Viele von Gysis Freunde taten es, aber sein Vater hatte es ihm verboten.
Dem ersten leibhaftigen Amerikaner begegnete Gysi wenige Wochen vor dem Mauerbau – und auch nur für einen kurzen Augenblick. Es war ein US-Soldat an einem der Übergänge zwischen der sowjetischen und der amerikanischen Besatzungszone. Gysis Vater hatte eine dunkle Vorahnung und bat darum einen reichen französischen Freund, seinen Sohn und seine Tochter mit dem Auto abzuholen und für ein paar Stunden durch West-Berlin zu fahren. Die Gysi-Kinder sollten, bevor ihnen der Weg in den Westen endgültig versperrt wurde, wenigstens einmal die Siegessäule, den Tiergarten, den Ku’damm und den Funkturm gesehen haben.
Amerika war all die Jahrzehnte der deutschen Teilung für die DDR der große ideologische und militärische Feind.
Amerika war all die Jahrzehnte der deutschen Teilung für die DDR der große ideologische und militärische Feind, auch wenn sich der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, wie Gysi erzählt, in den achtziger Jahren verrenkte, um wenigstens einmal auf Staatsbesuch in die Vereinigten Staaten reisen zu können. Allerdings vergeblich. Im Leben des heranwachsenden Gregor Gysi spielten die USA jedoch keine größere Rolle, erst im Abitur kam er erneut mit ihnen in Berührung.
Gysi besuchte den naturwissenschaftlichen Zweig eines Gymnasiums und hatte als Fach für die schriftliche Arbeit Geographie gewählt. Das schien ihm einfacher als Physik oder Chemie. Wie selbstverständlich ging er davon aus, dass in der Abiturprüfung sein erdkundliches Wissen über die DDR oder die Sowjetunion abgefragt werden würde, doch zu seiner großen Überraschung waren die Rohstoffquellen der USA das Thema.
Natürlich hatten sie den Stoff im Unterricht durchgenommen, es gab auch einen Schulatlas, in dem auf einer Karte die Bodenschätze der Vereinigten Staaten eingezeichnet waren, Steinkohle, Kupfer und Öl zum Beispiel. Aber kein Schüler und keine Schülerin hatte damit gerechnet, dass im Examen ausgerechnet Amerika drankommen würde. „Ich weiß bis heute nicht, warum wir so geprüft wurden,“ lacht Gysi, „wir konnten damit ja überhaupt nichts anfangen.“ Zum Glück ging die Prüfung gut aus und Gysi bekam eine Eins.
Anders als für die Ostdeutsche Angela Merkel waren die Vereinigten Staaten für Gysi kein Sehnsuchtsort. Sie habe sich hinter dem Eisernen Vorhang für amerikanische Jeans begeistert, erzählte die Bundeskanzlerin in ihrer Rede vor dem US-Kongress im November 2009, und „niemals“ werde sie „den ersten Blick auf den Pazifischen Ozean vergessen“, als sie 1990, kurz nach dem Fall der Mauer, mit ihrem Mann in die USA reiste.
Diese Sentimentalität empfand Gysi nicht, als er 1991 zum ersten Mal über den Atlantik flog. Da war er Parteivorsitzender der PDS und Deutschland bereits wiedervereinigt. Allerdings hatte Gysis Vater in den achtziger Jahren schon einmal die Vereinigten Staaten besucht. Als Staatssekretär für Kirchenfragen war Klaus Gysi zum amerikanischen National Prayer Breakfast, dem jährlichen Nationalen Gebetsfrühstück in der Hauptstadt Washington eingeladen, an dem regelmäßig auch der Präsident teilnimmt. Damals regierte der Republikaner Ronald Reagan im Weißen Haus und schüttelte Gysis Vater die Hand.
1991 war auch Gregor Gysi Gast dieser Veranstaltung, als Teil einer sechsköpfigen Bundestagsdelegation. Präsident war der Republikaner George H.W. Bush, dessen Land im Mittleren Osten gerade einen Krieg zur Befreiung Kuweits führte. Der irakische Diktator Saddam Hussein hatte das benachbarte Ölscheichtum überfallen und seinem Land einverleibt. Gysi erzählt, wie bei einem anderen Treffen ein republikanischer Senator auf die sechs Deutschen zusteuerte, die absichtlich alle Ostdeutsche waren, und von jedem wissen wollte, was er über Amerikas Krieg gegen Saddam Hussein dachte.
Einer nach dem anderen, so Gysi, erst der CDU-Abgeordnete, dann der Sozialdemokrat, der Liberale und selbst der Grüne hätten die Notwendigkeit dieses Krieges betont. Zuletzt sei er an der Reihe gewesen und habe gesagt, es täte ihm leid, die einzige Ausnahme zu sein, aber er fände diesen Krieg „völlig falsch“. Überraschend habe der konservative Senator geantwortet: „Ach, da bin ich ja froh, ich dachte schon, ich stünde mit dieser Meinung allein. Jetzt sind wir zu zweit.“ Noch heute lacht Gysi herzhaft über das ungläubige Erstaunen seiner deutschen Kollegen.
„Als Präsident Bush 1991 den Angriff auf den Irak befahl,“ sagt Gysi, „beschlich mich die Angst, dass Kriege wieder ein gängiges Mittel zur Lösung von schwierigen Problemen werden.“
Selbstverständlich sei auch er für ein unabhängiges, souveränes Kuweit gewesen, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Unverletzlichkeit der Grenzen seien ein hohes Gut. Aber Gysi ist überzeugt, die USA hätten Saddam Hussein auch ohne Bomben auf Bagdad zum Einlenken zwingen können, gerade auch mit Verlockungen. „Als Präsident Bush 1991 den Angriff auf den Irak befahl,“ sagt Gysi, „beschlich mich die Angst, dass Kriege wieder ein gängiges Mittel zur Lösung von schwierigen Problemen werden.“ Und leider sei es auch so gekommen. Bushs Sohn habe dem Vater nachgeeifert und zwölf Jahre später als US-Präsident den Einmarsch in den Irak angeordnet.
Viel zu wenig werde über die Möglichkeiten der Diplomatie, über eine friedliche Beilegung von Konflikten nachgedacht, klagt Gysi, auch in der Ukraine oder im Streit mit China. Seine größte Sorge ist es gegenwärtig, dass China bald wirtschaftlich stärker sein wird als die USA, aber Letztere den Verlust von Platz eins um keinen Preis akzeptieren wollen. „Die USA sind schlechte Verlierer und ich kann nur hoffen, dass es keinen Krieg zwischen ihnen und China geben wird, das wäre absolut furchtbar.“
Gysi will, dass sich Deutschland und Europa unabhängiger machen von Vereinigten Staaten, nicht loslösen, denn das wäre im Konflikt mit Russland falsch, aber sie sollten selbstständiger und selbstbewusster werden im Bündnis mit den USA. Zu große Hörigkeit, so Gysi, führe auf Dauer zu Unfreiheit. Im Bundestag wettert er auch schon mal gerne gegen das in seinen Augen „deutsche Vasallentum“.
Für seinen Geschmack drehe sich dort zu viel ums liebe Geld und gebe es ein paar Dinge, die ihn als Anwalt größerer Verteilungsgerechtigkeit „schrecklich stören“.
Mittlerweile ist Gysi schon einige Male zu Besuch in den Vereinigten Staaten gewesen, vor allem in großen Städten wie New York, Washington, Chicago und San Francisco. Er hat die Niagarafälle gesehen und würde gerne mal nach Alaska und Hawaii, vielleicht auch mal einen Roadtrip machen über Land. Aber richtig anfreunden kann sich Gysi nicht mit diesem Land. Für seinen Geschmack drehe sich dort zu viel ums liebe Geld und gebe es ein paar Dinge, die ihn als Anwalt größerer Verteilungsgerechtigkeit „schrecklich stören“: Das unfaire Gesundheitssystem zum Beispiel, das nach wie vor viele Amerikaner in den Bankrott treibe, weil sie ihre Arztrechnung nicht begleichen könnten. Oder dass man als Restaurantbesucher auf die Rechnung noch einmal mindestens 20 Prozent Trinkgeld drauflegen müsse, weil der Chef seinem Personal „einen Hungerlohn“ zahle. Oder dass Milliardäre wie Trump „als große Erfolgsnummer“ gälten, egal ob sie ihr Geld selbst erarbeitet, geerbt oder auf eine kriminelle Tour verdient hätten.
Nein, zur Nachahmung empfehle er das amerikanische Modell nicht, sagt Gysi. Die krasse Ungleichheit sei ein schreiendes Unrecht, und er könne überhaupt nicht verstehen, dass viele Arme sich selbst und nicht den Strukturen die Schuld dafür gäben, mittellos geblieben zu sein. „Das ist doch völlig verrückt!“ Damals in der DDR, sagt Gysi, seien Menschen politisch ausgegrenzt worden, doch damit sei zum Glück Schluss. Heute aber würden viele Menschen eher sozial diskriminiert. „Nach meinem Eindruck ist diese Art der Ausgrenzung in Amerika nicht nur besonders schlimm, sondern auch Teil des Systems.“ Die Leute dort mag er trotzdem.