„Der Ukraine-Krieg hat die Aufmerksamkeit der USA auf Europa gelenkt“
Für Tyson Barker von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gilt es, den „flüchtigen Moment“ des russischen Überfalls auf die Ukraine für ein dauerhaftes europäisches Sicherheitsabkommen zu nutzen. Der Außenpolitik-Experte bewertet im Kurzinterview zudem die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene Zeitenwende aus amerikanischer Perspektive und beleuchtet die derzeitige Wahrnehmung von US-Präsident Biden.
Herr Barker, die „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Scholz wurde von Deutschlands Verbündeten sehr positiv aufgenommen. Mittlerweile wird jedoch Kritik laut, dass den Worten der deutschen Regierung zu wenig Taten folgen, wie zum Beispiel Energiesanktionen gegen Russland oder weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Tut Deutschland aus amerikanischer Sicht genug, um Präsident Putin entscheidend zu schwächen?
Die Biden-Administration verfolgt mit ihrer Reaktion auf Putins Krieg vor allem ein Ziel: die euro-atlantische Einheit zu erhalten und zu festigen, um die Ukraine zu unterstützen, die Kosten für Russland in die Höhe zu treiben und die Ostflanke der NATO zu stärken.
In allen drei Bereichen hat die Biden-Administration eng mit der Regierung Scholz zusammengearbeitet und war beeindruckt von der Geschwindigkeit, der Kreativität und der Führungsstärke mit Blick auf Nord Stream 2, die „Zeitenwende“, die Sanktionen und die beschleunigte Abkopplung von russischem Öl, Kohle und Gas. Die amerikanische Seite weiß, dass die Regierung Scholz nicht auf die Bremse treten wird, wenn es darum geht, eine gemeinsame Antwort auf Putin zu geben.
Allerdings werden einige streitbare Akteure die Biden-Administration unter Druck setzen, mit Deutschland härter ins Gericht zu gehen, während der Krieg fortschreitet. Sowohl die Demokraten als auch die Republikaner im Kongress könnten den Druck auf Deutschland weiter erhöhen, insbesondere wenn die Ukraine und die mitteleuropäischen Verbündeten neue Maßnahmen gegen Putins Vorstoß fordern.
Wie bewertet die amerikanische Öffentlichkeit Bidens Reaktion auf den russischen Einmarsch in die Ukraine – wird der Präsident als durchsetzungsstark wahrgenommen? Und welchen Einfluss haben die steigenden Spritpreise auf die Sicht der Amerikanerinnen und Amerikaner auf den Krieg?
Die öffentliche Meinung in den USA zu Putins Krieg ist weiterhin unbeständig. Vor dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar war eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner gegen Bidens Vorgehen in der Russland-Ukraine-Frage. Die meisten der Befragten waren der Ansicht, der Präsident unternehme zu viel.
Nach dem 24. Februar war die anfängliche Zustimmung zu Bidens Ukraine-Politik hoch, auch wenn sich dies nicht auf seine allgemeinen Zustimmungswerte auswirkte, die sich im unteren Bereich von 40 % bewegen. In den vergangenen Wochen wies die Zustimmung eine fallende Tendenz auf. Diese Zahlen spiegeln sich mehr oder weniger direkt in der amerikanischen Innenpolitik wider, in der Wahrnehmung von Bidens Umgang mit der Pandemie und der Inflation, und entlang von Indikatoren wie der Parteizugehörigkeit.
Eine überwältigende Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner ist derzeit der Meinung, dass die USA zusätzliche Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine ergreifen sollten, sei es in Form von Energiesanktionen oder der Lieferung von Waffen, einschließlich Flugabwehrraketen und MiG-Kampfflugzeugen. Allerdings würden nicht annähernd so viele US-Bürger eine aktive militärische Beteiligung der USA am Krieg unterstützen.
In den letzten Jahren haben die USA ihren geopolitischen Fokus zusehends von Europa in Richtung Indopazifik verschoben. Wie wird der Ukraine-Konflikt die strategische Ausrichtung der Vereinigten Staaten in den kommenden Monaten und Jahren ändern?
Putins Krieg hat die Aufmerksamkeit der USA wieder auf Europa gelenkt. Doch die wirtschaftlichen, militärischen, demografischen und geopolitischen Entwicklungen führen dazu, dass sich die USA immer stärker auf den indopazifischen Raum konzentrieren. Die gesamte diplomatische und militärische Ausrichtung der Biden-Administration ist auf diese Verlagerung fokussiert.
Amerikas euro-atlantisches Engagement wird, auch wenn es wichtig ist und wahrscheinlich noch die nächsten Jahre andauern wird, schließlich vermutlich einer Verlagerung des außenpolitischen Augenmerks auf den Indopazifik zum Opfer fallen. Aus diesem Grund ist es sowohl für Europa als auch für die amerikanischen Transatlantiker wichtig, diesen flüchtigen Moment zu nutzen, um ein dauerhaftes europäisches Sicherheitsabkommen zu schmieden, das die EU und die europäischen NATO-Mitgliedstaaten in die Lage versetzt, in Zukunft eine entscheidende Führungsrolle zu übernehmen.
Tyson Barkers Profilseite bei der DGAP finden Sie hier. Er ist Young Leader Alumnus der Atlantik-Brücke von 2014.