Der Schein trügt
von Rieke Havertz
Außenpolitik, Europa, das ist nichts, was ein US-Präsident normalerweise bei seiner Rede zur Lage der Nation vor dem versammelten Kongress überbetont. Die State of the Union ist im Kern eine innenpolitische Rede. Eine Chance, die Agenda des Weißen Hauses vor Millionen Zuschauern darzulegen. Und das bedeutet in den Vereinigten Staaten vor allem den Blick aufs Eigene. Doch die Welt ist eine andere, seit Russlands Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat. Und für einen Moment war so auch die routinierte Welt der Washingtoner Politik eine andere. Joe Biden begann seine Rede nicht mit einer Leistungsschau seiner Erfolge, nicht mit Infrastrukturplänen oder Arbeitsmarktzahlen.
Er sprach über den Krieg in der Ukraine. Lang, klar, konsequent: „Putin dachte, er könnte in die Ukraine einfallen und die Welt würde sich überschlagen. Stattdessen traf er auf eine Mauer der Stärke, die er sich nie hätte vorstellen können. Er traf auf das ukrainische Volk.”
Und dann brach diese Washingtoner Welt gleich noch einmal aus ihrer Routine aus. Der Präsident erhielt Standing Ovations – von Demokraten und Republikanern. Dass sich die Politiker beider Parteien erheben, um sich gemeinsam hinter eine Botschaft zu versammeln, das ist eine Szene wie aus einer vergangenen Zeit. Als das Repräsentantenhaus am Jahrestag des Sturms auf das Kapitol eine Schweigeminute abhielt, standen nur zwei Repulikaner im Saal: Liz Cheney und ihr Vater Dick Cheney.
Doch das schöne Bild der Einigkeit trügt. Innenpolitisch sind die Debatten über die Strategie im Umgang mit Russland und die Meinungen über Putin komplizierter.
Die Regierung setzt auf harte Sanktionen in enger Absprache mit der westlichen Allianz. Und dabei schreitet Biden – für amerikanische Verhältnisse unüblich – nicht allein voran, sondern sucht die Koordination mit Europa und den transatlantischen Bündnispartnern. Die neue Ausrichtung der deutschen Außenpolitik wird in Washington mit Wohlwollen aufgenommen, Dankbarkeit für den Willen zur leadership ist gar zu hören. Damit einher geht auch ein Anspruch für die Zukunft. Doch in der Krise mit Putin steht der Westen zunächst eng wie nie zueinander und das ist auch Joe Bidens Führung zu verdanken.
Einen Erfolg, den die Republikaner dem Präsidenten nicht gönnen wollen. Ihre zur Schau gestellte Solidarität im Kongress bedeutet nicht, dass sie Biden loben würden. Mitch McConnell, Minderheitenführer im Senat und einflussreicher Establishment-Republikaner, fordert von Biden seit Wochen ein schnelleres und strikteres Vorgehen gegen Putin. Aber immerhin benennt McConnell Putin als den Aggressor. Das ist nicht bei allen Konservativen der Fall.
Einer aktuellen Umfrage zufolge haben Republikaner eher eine ablehnende Haltung gegenüber Biden als gegenüber Putin.
In rechtskonservativen Kreisen nimmt Biden Russland und die Ukraine nur als Vorwand, um von Energiekosten und Inflation abzulenken. Tucker Carlson, rechter Hetzer bei Fox News, sagte kurz vor der Invasion: „Die Demokraten in Washington haben gesagt, dass es eine patriotische Pflicht sei, Wladimir Putin zu hassen. Das ist kein Vorschlag. Es ist ein Mandat. Alles andere als Hass auf Putin ist Verrat.“ Der russische Kreml-Sender RT strahlte Carlsons Monolog mit russischen Untertiteln aus. Seit der Krieg begonnen hat, insinuiert Carlson, dass es der Plan Washingtons gewesen sei, dass Putin eine Invasion in der Ukraine beginne, damit die USA so in den Krieg mit Russland eintreten könnten. Die Behauptungen sind so absurd wie falsch, finden aber ihr Publikum. Einer aktuellen Umfrage zufolge haben Republikaner eher eine ablehnende Haltung gegenüber Biden als gegenüber Putin. Ex-Präsident Donald Trump bestärkt dieses Bild. Mit ihm als Präsident hätte sich Putin all das nicht getraut, sagte er kürzlich während einer Rede in Florida.
Es ist eine alternative Realität, die dort geschaffen wird. Diese andere Weltsicht ist innenpolitisch schon lange eingeübt und weitet sich jetzt auf die Russland-Krise aus. Zum einen, um zu betonen, dass eigentlich Trump im Weißen Haus sitzen sollte, nicht Biden. Und zum anderen, um gegen die linken Stimmen im Land vorzugehen, die aus dieser Perspektive das eigentliche Amerika kaputt machen.
Innenpolitisch gibt es so für Joe Biden mehrere Herausforderungen. Er muss mit den Fakten über den Krieg und seine Ursachen versuchen, auch jene zu erreichen, die sich dieser Realität verweigern wollen. Und er muss konsequent bleiben in der Allianz mit den westlichen Partnern in dem Versuch, Putin zu stoppen. Auch, wenn das bedeuten könnte, dass die Benzinpreise noch weiter steigen, die Inflation anhält und Cyberangriffe wahrscheinlicher werden. Keine dankbaren Szenarien vor den Zwischenwahlen im November. Doch Joe Biden, der die Verteidigung von Demokratien zur Meta-Botschaft seiner Präsidentschaft gemacht hat, darf sie in dieser wahrhaftig globalen Krisenzeit nicht scheuen.
Rieke Havertz ist Internationale Korrespondentin und Redaktionsleiterin bei ZEIT ONLINE. Bis Ende 2021 war sie als US-Korrespondentin in Washington, D.C., tätig.
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