Deutschlands neue Verantwortung in der Weltpolitik
Deutschland hat wiederholt seine Bereitschaft erklärt, internationale Verantwortung zu übernehmen. Die Bundesrepublik weiß um ihre internationalen Gestaltungsmöglichkeiten und kennt die Erwartungshaltung ihrer europäischen und globalen Partner. Vor diesem Hintergrund besitzt die Frage nach dem Selbstverständnis Deutschlands als Akteur in der internationalen Sicherheitspolitik große Relevanz. Die Projektgruppe Weißbuch 2016 des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) hat sich in einem Expertengespräch mit Mitgliedern der Atlantik-Brücke dieser Fragestellung gewidmet. Die Gesprächsteilnehmer erzielten schnell Einigkeit darin, dass politische Entscheidungsträger, aber auch Denkfabriken und Medien die übergreifende Diskussion um Deutschlands Verantwortung in der Welt führen und die Öffentlichkeit an diesem Diskurs beteiligen sollten – wie dies bisher erfolgreich im Rahmen der Partizipationsphase zum Weißbuch 2016 geschehen sei.
Für die Experten erschien es schlüssig, bei der Beschreibung der zentralen Merkmale des obersten sicherheitspolitischen Grundlagendokuments der Bundesregierung mit Augenmaß vorzugehen. Ziele sollten nach Möglichkeit im Einklang mit Ressourcen und Fähigkeiten auch der Bundeswehr stehen. Die Teilnehmer sprachen die Empfehlung aus, auch die Frage in den Blick zu nehmen, ob ein Mechanismus zur Überprüfung und gegebenenfalls sinnvollen Aktualisierung der sicherheitspolitischen Dokumente hilfreich wäre, um auf relevante Entwicklungen in Krisen und Konflikten reagieren zu können. Dabei könnte zum Beispiel ein Vorschlag der „Kommission zur Überprüfung und Sicherung der Parlamentsrechte bei der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr“ unter der Leitung des früheren Bundesverteidigungsministers Volker Rühe als Ausgangspunkt dienen: Die Bundesregierung solle jährlich dokumentieren, in welchen internationalen Verflechtungen sie involviert ist und welche Verpflichtungen sich daraus ergeben.
Verlässliches Handeln und aktives Engagement
Deutschlands Partner und Verbündete wünschen sich von der Bundesrepublik, dass diese in der internationalen Politik – und hier insbesondere in Sicherheits- und Verteidigungsfragen – verlässlich handelt und sich aktiv engagiert. In dieser Erwartungshaltung spiegelt sich die gestiegene geopolitische Verantwortung Deutschlands wider. Für das sicherheitspolitische Selbstverständnis Deutschlands sei dies ein Anstoß mehr, anstehende Entscheidungen aktiv mitzugestalten und diese auch in der Umsetzungsphase zu unterstützen.
Mehrheits- statt Konsensentscheidungen seien eine Möglichkeit, die lange angestrebte „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ (GSVP) in Zeiten zunehmender globaler Unsicherheit handlungs- und reaktionsfähig zu halten. Wie in der Flüchtlingskrise, die Europa unmittelbar und unter höchstem Zeitdruck herausfordere und zu koordiniertem politischen Handeln zwinge, wurden Mehrheitsentscheidungen als Lackmustest für die Handlungsfähigkeit der EU-Mitgliedsstaaten beschrieben. Die Gesprächsteilnehmer werteten es als plausible Erwartungshaltung, dass Deutschland auf diese Art und Weise dazu beitragen werde, Europa von innen, aus der Mitte heraus zu stärken. Dabei gelte es, in größerem Rahmen und im Zusammenspiel mit Institutionen wie den Vereinten Nationen, der NATO, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Afrikanischen Union oder auch der Arabischen Liga nicht nur eine effektive Verteidigungspolitik anzuwenden, um so auch global der Verantwortung gerecht zu werden. Darüber hinaus müsse auch Entwicklungszusammenarbeit vor allem in der Bildungspolitik im Verbund mit der Sicherheitspolitik eine wichtige Rolle spielen. Die internationale Übernahme von Verantwortung müsse in ein umfassendes Gesamtkonzept eingebunden sein und dürfe nicht auf die militärische Dimension verengt werden.
Aus Sicht einiger Teilnehmer ist die Bundesrepublik ohnehin in ihrem unmittelbaren geografischen und politischen Wirkungskreis, in der Europäischen Union, in ihrer sich wandelnden Rolle nicht auf sich alleine gestellt. Dies gelte insbesondere, wenn die EU-Staaten das „Pooling und Sharing“-Konzept ernsthaft und konsequent umsetzen würden: Dies würde nicht nur das gemeinsam finanzierte Beschaffen von technischem Gerät und Ausrüstung sowie die im Anschluss daran geteilte Nutzung mit sich bringen, sondern auch zusammen geschulterte Kapazitäten in der Ausbildung und im Training von Soldaten und anderem militärischen Personal. Neben dem generell zu erwartenden Effizienzgewinn rechnen manche Experten in diesem Zusammenhang mit einem Einsparpotenzial im zweistelligen Milliardenbereich. Über die erfolgreichen Pilotprojekte überlappender Unterstellungen in der Kooperation mit Polen und den Niederlanden hinaus leiste die Bundesrepublik bereits einen Beitrag zur weiteren Kooperation und Vertiefung der europäischen Integration im Bereich der Verteidigungspolitik.
Schutz der Freiheit
Drei mögliche Abhängigkeiten und daraus erwachsende Ziele standen im Fokus der Aufmerksamkeit der Gesprächsteilnehmer: erstens der hochgradige Austausch im Freihandel und von Investitionen zwischen den europäischen Staaten, zweitens deren Friedfertigkeit und Sicherheit sowie drittens die Stabilität ihrer demokratischen Ordnungen. Aus diesem Dreiklang ergebe sich der moralische Anspruch, Freiheit als solche zu schützen. Die Experten empfahlen, die Ausrichtung so zu wählen und gestalten, dass diese nicht bei der unvermeidlichen nächsten Lageänderung in der internationalen Sicherheitspolitik obsolet werde.
So robust die Ausrichtung dargestellt und vertreten werden müsse, so flexibel und kurzfristig anpassungsfähig sollten sicherheitspolitische Reaktionen ausfallen. Bestimmte Vorfestlegungen in Bezug auf etwaige Missionen könnten sich für gesetzte Ziele als hinderlich erweisen, etwa wenn das Weißbuch „weiße Flecken“ beschreiben und definieren sollte – also No-go-areas, in denen Deutschland von vornherein nicht agieren solle. Die Entwicklung des Ukraine-Konflikts ebenso wie die Bedrohung durch die Terrormiliz IS im Irak, in Syrien und Libyen verdeutlichten eindrücklich, wie schnell und wie wenig vorhersehbar sich geopolitische Szenarien veränderten. Neue Sicherheitslagen könnten also auch zu veränderten Prioritäten führen. Auf der Metaebene müsse festgehalten werden, dass die Fähigkeiten der deutschen Verteidigungspolitik der Bundesrepublik grundsätzlich eine gewisse militärische Bescheidenheit auferlegten. Dies gehöre auch zu einem realistischen Blick auf die neue deutsche Verantwortung in der Weltpolitik.