„Die Bruchlinien der Demokraten sind unübersehbar“
Marie-Astrid Langer, US-Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung, hat die erste virtuelle National Convention der Demokratischen Partei von San Francisco aus beobachtet. Im exklusiven Interview der Atlantik-Brücke spricht sie über den außergewöhnlichen Konvent, die Chancen des Kandidatenduos Joe Biden und Kamala Harris und das „nebulöse Wahlprogramm“ der Demokraten. Das Wahljahr 2020 im Corona-geplagten Amerika werde auch den meisten Journalisten in den USA in schmerzhafter Erinnerung bleiben, schildert Langer ihre persönlichen Eindrücke.
Interview: Robin Fehrenbach
Frau Langer, könnte es Joe Biden und seiner Kampagne geschadet haben, dass er beim Parteitag im so wichtigen Swing State Wisconsin persönlich nicht vor Ort war aufgrund der Corona-Pandemie? Wie mitreißend kann ein digitaler Parteitag überhaupt sein?
Wisconsin ist ein enorm wichtiger Swing State im Wahljahr 2020, nicht zufällig hatten die Demokraten die bevölkerungsreichste Stadt Milwaukee als Austragungsort für ihren Parteitag ausgewählt. Doch die Pandemie hatte auch diese Pläne auf den Kopf gestellt, und eine Kernbotschaft der Demokraten im diesjährigen Wahlkampf lautet nun einmal, dass sie – im Gegensatz zu Präsident Donald Trump – die Gefahr durch das Corona-Virus ernst nehmen. So gesehen war die Beschränkung auf einen rein virtuellen Parteitag logisch und auch Bidens Fernbleiben von Milwaukee nur konsequent. Dass er die Convention nicht persönlich besuchte, fiel kaum auf: Die meisten anderen Topshots der Demokraten taten es ihm gleich und schalteten sich von ihren Heimatstaaten virtuell ins Programm dazu.
Gleichzeitig versuchte aber Präsident Trump, das von den Demokraten hinterlassene Machtvakuum in Wisconsin auszunutzen, und besuchte den Gliedstaat diese Woche persönlich, ebenso wie Minnesota. Joe Biden wäre gut beraten, trotz des Coronavirus in den kommenden Wochen persönlich in Wisconsin aufzuschlagen, wenn auch unter Einhaltung von social-distancing-Regeln. Er sollte von Hillary Clintons Fehlern von 2016 lernen und die Unterstützung in vermeintlich demokratischen Hochburgen im Mittleren Westen nicht als selbstverständlich erachten.
Denn auch wenn der virtuelle Parteitag der Demokraten überraschend gut funktioniert hat – mit kaum technischen Pannen, bunt gemischten Beiträgen und einem Feuerwerk zum Schluss –, gewinnt man das Herz von unentschlossenen Wähler nicht mit Zoom-Auftritten.
Können sich die verschiedenen Flügel und Strömungen – gerade auch aus dem progressiven Lager – in der Demokratischen Partei geschlossen hinter Biden und Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris versammeln?
Das wird eine der spannenden Fragen bis zum Wahltag am 3.November bleiben. Die Demokratische Parteiführung bemühte sich zwar redlich, am Parteikonvent die Spannungen zwischen den Parteiflügeln zu verdecken und zu zeigen, dass Harris und Biden eine Koalition aus moderaten und progressiven Demokraten vereinen können.
Doch die Bruchlinien waren trotzdem zu erkennen: So sollte die Gallionsfigur der Linken, Alexandria Ocasio-Cortez, Bernie Sanders’ Nominierungsrede halten. Sanders hatte sich am Parteitag aufstellen lassen, um die linke Basis nicht zu verprellen, obwohl er selbst seit Mitte April aus dem Rennen ausgeschieden ist und Biden unterstützt. Doch „AOC“ bekam für ihre Rede gerade einmal 95 Sekunden Redezeit zugebilligt; „so viel, wie Barack Obama braucht, um Luft zu holen“, scherzte jemand auf Twitter. Sie nutzte diese Zeit, um zwar von der Kolonialisierung und wirtschaftlichen Rechten zu sprechen, erwähnte Biden aber mit keinem Wort.
Später stellte „AOC“ zwar auf Twitter klar, dass auch sie sich voll hinter das Team Biden-Harris stellt – kritisierte im nächsten Tweet aber wieder Mitarbeiter von Bidens Wahlkampfstab. Es ist auch ein offenes Geheimnis, dass sich das progressive Lager eine andere «running mate» gewünscht hätte, beispielsweise Elizabeth Warren.
Bernie Sanders bemühte sich redlich darum, alle programmatischen Differenzen zu überwinden und dieses Jahr alle hinter dem Ziel zu vereinen, Trump zu besiegen.
Gleichzeitig muss man sagen, dass das virtuelle Format des Parteitags den Organisatoren dabei half, Unvorhergesehenes wie Proteste von enttäuschten „Bernie“-Anhängern abzuwenden. Der wiederum bemühte sich redlich darum, alle programmatischen Differenzen zu überwinden und dieses Jahr alle hinter dem Ziel zu vereinen, Trump zu besiegen.
Wie groß jedoch die Gräben zwischen den Flügeln, die es zu vereinen gilt, sind, zeigte sich an Überraschungsgästen wie John Kasich, einst republikanischer Gouverneur von Ohio und Präsidentschaftskandidat 2016. Die Anhänger von Kasich und die von „AOC“ dürften wohl höchstens eine Abneigung gegen Trump gemein haben.
Derzeit ist das Wahlprogramm von Biden noch sehr dünn, statt mit Inhalten versuchte er, die Wähler mit seiner Persönlichkeit zu überzeugen. Doch in den kommenden Wochen wird sein Team mehr konkrete Programme präsentieren müssen – und damit zwangsläufig den linken oder den rechten Flügel vor den Kopf stoßen. Die Frage ist, ob der Burgfrieden bis zum Wahltag am 3. November halten wird. Dass er danach endet, sehe ich als nahezu sicher an – insbesondere, falls im Fall einer Niederlage Trumps das gemeinsame Feindbild plötzlich verschwinden sollte.
Welche Chancen haben Biden und Harris, unentschlossene und konservative Wähler mit ihrem Programm zu mobilisieren?
Im Vorwahlkampf der Demokraten zählten Biden und Harris zu den gemäßigten Anwärtern. Das Duo dürfte ohne Zweifel für viele unentschlossene und auch konservative Wähler wählbarer sein, als es ein Bernie Sanders gewesen wäre.
Der Parteitag bot mehrere Charmeoffensiven an moderate Wählergruppen: Mit John Kasich und Colin Powell etwa hatten gemäßigte Republikaner Gastauftritte und vermittelten den Eindruck, dass es dieses Jahr okay ist, als Republikaner für einen Demokraten zu stimmen. Auch Cindy McCain, die Witwe des extrem populären republikanischen Senators John McCain, erinnerte die Zuschauer des Demokratischen Parteikonvents daran, dass ihr verstorbener Mann ein Freund der Bidens war. Dass McCain ihre Stimme dem Demokratischen Parteitag lieh, war bemerkenswert, schließlich war ihr Mann 2008 noch für die Republikaner gegen Barack Obama angetreten. Die Beispiele zeigen, wie ungewöhnlich die nächsten 75 Tage werden dürften und wie wenig der diesjährige Wahlkampf mit einem traditionellen, progressiv-versus-konservativen Rennen zu tun haben wird.
Auch die Themen Glaube und Religion bekamen immer wieder eine Plattform während des Konvents. „Joe Biden geht so regelmäßig zur Kirche, er braucht nicht einmal Tränengas und Militär, um dorthin zu kommen“, scherzte die Moderatorin Julia Louis Dreyfus am Donnerstag mit einem gekonnten Seitenhieb gegen Trump, der sich den Weg zur St. John’s-Kirche in Washington im Juni auf diese Weise hatte freiräumen lassen.
Statt um konkrete politische Inhalte kreiste der Parteitag um die Botschaft, dass Biden ein wirklich anständiger und liebenswerter Kerl ist, der alles besser machen wird als Donald Trump.
Doch um die Frage besser zu beantworten, müsste man das Wahlprogramm von Biden-Harris kennen, und das ist auch nach der Convention nebulös. Statt um konkrete politische Inhalte kreiste der Parteitag um die Botschaft, dass Biden ein wirklich anständiger und liebenswerter Kerl ist, der alles besser machen wird als Donald Trump. Doch wie Bidens außenpolitische Vision aussieht oder wie er das marode Gesundheitswesen reformieren will, wurde nur vage angedeutet; Biden sprach am zweiten Tag lediglich von einer staatlichen Option „nach Vorbild von Medicare“.
Doch vielen unentschlossenen Wählern dürfte es nicht genug sein, darauf zu vertrauen, dass „Joe“ es schon richten wird. Und auch viele konservative Wähler dürften auf konkrete Inhalte bestehen, bevor sie Biden ihre Stimme geben.
Was war für Sie als US-Korrespondentin der Moment, der von dieser Democratic National Convention in Erinnerung bleiben wird?
2020 wird uns Korrespondenten wohl auch aus beruflicher Sicht schmerzhaft in Erinnerung bleiben – statt in den Zirkus des Präsidentschaftswahlkampfs einzutauchen und persönlich an die Parteitage nach Milwaukee und Charlotte zu reisen, mussten die meisten von uns diese von der Couch aus verfolgen. Trotzdem hat auch die virtuelle Convention der Demokraten unvergessliche Eindrücke hinterlassen – bei mir vor allem mit der Rede der Second Lady. Dr. Jill Biden versprüht keine Funken wie Michelle Obama und polarisiert nicht wie Melania Trump, und so hatte ich kaum Erwartungen an ihre Rede am Abend des zweiten Tages. Tatsächlich aber lieferte sie eine verblüffend emotionale und klug aufgebaute Performance: Den Auftrittsort – ein leeres Klassenzimmer – hatten ihre Berater clever gewählt. Nichts weckt im Corona-geplagten Amerika derzeit Sehnsüchte wie der Anblick eines Schulhauses: der Inbegriff der Normalität, nach der sich alle hier sehnen.
Auch ihre Leidenschaft für das Unterrichten kaufte man der Lehrerin und Professorin an einem Community College ab. Überraschend persönlich erzählte sie vor einem Millionenpublikum davon, wie sie sich als 26-Jährige in den neun Jahre älteren Joe Biden verliebt hatte, aber unsicher war, ob sie tatsächlich einen Witwer mit zwei Halbwaisen heiraten sollte. Oder wie der Tod ihres Stiefsohnes Beau sie emotional gelähmt hatte. Es sind Sorgen, die vielen Zuschauern vertraut sein dürften, und sie alle füttern die gleiche Botschaft: Die Bidens sind eine ganz normale amerikanische Familie, die jeder gerne zum Nachbarn hätte. Natürlich war diese Botschaft von den Parteistrategen sorgfältig konstruiert worden. Trotzdem wirkte Jill Biden erfrischend authentisch und sympathisch in der Art, wie sie die Botschaft herüberbrachte.
Marie-Astrid Langer arbeitet für die Neue Zürcher Zeitung als US-Korrespondentin mit Sitz in San Francisco. Erfahren Sie auf Ihrer NZZ-Profilseite mehr von ihr und ihrer journalistischen Tätigkeit. Sie ist zudem Young-Leader Alumna der Atlantik-Brücke von 2019.