Die EZB sollte vorerst weiter straffen
Prof. Dr. Andreas Dombret, Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke und Global Senior Advisor bei Oliver Wyman, plädiert in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung dafür, dass sich EZB-Präsidentin Christine Lagarde nicht von ihrem eingeschlagenen Zins-Weg abbringen lässt. Es brauche allerdings auch Pläne zum Abbau der Wertpapierbestände. Den Beitrag können Sie auch in der Erstveröffentlichung der FAZ hier lesen.
Die Europäische Zentralbank ist seit nunmehr 15 Jahren im permanenten Krisenmodus. 2008 ging es darum, die Schockwellen der globalen Finanzkrise und die damit einhergehende Rezession abzufedern. Kurz darauf brach die Staatsschuldenkrise über die EU herein. Da weder die EU noch die Mitgliedstaaten aus wirtschaftlichen und strukturellen Gründen rechtzeitig handlungsfähig waren, hat die EZB die Aufgabe übernommen, ein Auseinanderfallen der Währungsunion zu verhindern. Auch Covid erforderte entschlossenes Eingreifen, und die EZB stand der Fiskalpolitik geldpolitisch zur Seite.
So wichtig alle diese Maßnahmen waren, so umfangreich waren auch deren Folgen, vor allem in Form einer starken Bilanzausweitung des Eurosystems und dessen dominanter Rolle als Käufer von Staatsschulden, die in die Nähe einer monetären Staatsfinanzierung kommt oder gar – nach anderer Auffassung – diese rote Linie schon überschritten hat.
Für die EZB, deren zentrales Ziel die Preisstabilität ist, heißt die Krise der Stunde nun Inflation. Sie hat bei uns im Oktober und November 10 Prozent erreicht. In Deutschland ist das der höchste Wert seit der Währungsreform von 1948 und beinhaltet eine enorme Kerninflation. Baltische Staaten sind sogar mit Inflationsraten von mehr als 20 Prozent konfrontiert.
Zentralbanken haben Inflationsgefahr unterschätzt
Die Gründe sind unterschiedlich. Der kurzfristig wichtigste – die hohen Energiepreise infolge des russischen Krieges in der Ukraine – liegt außerhalb des Einflussbereichs der EZB und war von den Notenbanken nicht vorherzusehen. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass die Folgen der expansiven Geldpolitik der vergangenen Jahre und die umfangreichen fiskalischen Stützungspakete die Preisentwicklungen zumindest begünstigt haben. Nicht hilfreich war auch, dass die Zentralbanken weltweit die Inflationsgefahr eine Dekade lang überschätzt, nach der Pandemie bis zum Sommer dieses Jahres aber zunächst hartnäckig unterschätzt haben.
Der EZB-Rat ist sich der Risiken für die eigene Glaubwürdigkeit bewusst. Allein in diesem Jahr wurden bis November in mehreren Schritten die Euro-Leitzinsen um 2 Prozent angehoben. Auf der Sitzung an diesem Donnerstag ist mit einem weiteren Zinsschritt zu rechnen.
Dass mit der Energie ein wichtiger Inflationstreiber außerhalb der Eurozone liegt, ist bedeutsam, aber letzten Endes unerheblich: Das Preisstabilitätsmandat der EZB bezieht sich nicht nur auf binnenwirtschaftliche Faktoren, sondern auf das Preisniveau generell. Eine Straffung der Geldpolitik wirkt abkühlend auf die Wirtschaft und damit auch auf die Inflation, die eben nicht nur von Energiepreisen getrieben wird. Denn in den vergangenen Monaten ließen sich signifikante Preisanstiege auch im Dienstleistungssektor oder bei nichtenergieintensiven Produkten beobachten.
Zu starke Straffung könnte Rezession verstärken
Trotzdem ist es wichtig festzuhalten, dass eine Reduktion des Wachstums negative Effekte hat, nicht zuletzt am Arbeitsmarkt. Doch auch angesichts des entschiedenen Einschreitens der Geldpolitik sind diese Auswirkungen bisher überschaubar. Wir sind in der Eurozone aktuell weder mit zinsgetriebenen Immobilienkrisen noch mit Kreditklemmen konfrontiert. In großen Teilen der Eurozone ist zudem der Arbeitsmarkt ausgetrocknet, während sich Lohnerhöhungen in Grenzen halten.
Beim Blick in die Zukunft muss berücksichtigt werden, dass sich der konjunkturelle Ausblick in den vergangenen Monaten deutlich verschlechtert hat, vor allem beeinflusst durch den russischen Krieg in der Ukraine und die steigenden geopolitischen Spannungen. Europa sieht sich mit den notwendigen Maßnahmen zum Klimawandel, den auch dadurch wahrscheinlich langfristig höheren Energiepreisen, der Demographie und den Kosten einer wenn auch nur moderaten Rückabwicklung der Globalisierung mit Entwicklungen konfrontiert, die das Wirtschaftswachstum nachhaltig negativ beeinflussen können. Für Deutschland rechnet der IWF mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung 2023 von 0,3 Prozent, einem der tiefsten Werte der Eurozone. Es besteht also das Risiko, dass die EZB und auch andere Zentralbanken zu stark straffen und eine Rezession über Gebühr verstärken.
Noch sind wir nicht an diesem Punkt. Der neutrale oder gleichgewichtige Zins, bei dem die Geldpolitik die Wirtschaft weder anschiebt noch abbremst und über die Zeit zur angestrebten Inflationsrate von 2 Prozent führt, ist in etlichen Ländern der Eurozone noch nicht erreicht. Einmal mehr stellt sich für die EZB das Problem, dass sie eine einheitliche Geldpolitik für die Eurozone festzulegen hat, während die einzelnen Länder über unterschiedliche Voraussetzungen hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsmarkt und Verschuldung verfügen. Die Politik der EZB wird daher für einige Länder zu restriktiv, für andere zu locker sein. Dies ist jedoch einer Situation vorzuziehen, in der eine zu expansive Geldpolitik über eine längere Zeit zu überhöhten Preissteigerungen führt.
Die Glaubwürdigkeit der EZB steht auf dem Spiel
Das Risiko eines Überschießens der Geldpolitik darf natürlich nicht außer Acht bleiben. Erschwerend kommt hinzu, dass sich geldpolitische Maßnahmen in den meisten wirtschaftlichen Kennzahlen erst nach Monaten niederschlagen. Da der neutrale Zins jedoch noch nicht erreicht ist, bleibt nach meiner festen Überzeugung vorerst eine weitere Straffung angezeigt, insbesondere da das jetzige Inflationsniveau um ein Vielfaches über der von der EZB angestrebten Zielrate liegt und sich noch nicht merkbar reduziert hat. Die Frage einer Verlangsamung der Schritte stellt sich für mich damit erst im nächsten Jahr. Es wäre zu hoffen, dass dann auch die geopolitische und damit die konjunkturelle Situation mit etwas größerer Sicherheit einzuschätzen ist.
Zu guter Letzt ist die internationale Dimension zu beachten. Die Fed hat sich konsequent der Inflationsbekämpfung verschrieben, die Bank of England ebenfalls. Gouverneur Jay Powell hat in aller Deutlichkeit gesagt, dass er negative Wachstumseffekte für eine nachhaltige Bekämpfung der Inflation in Kauf zu nehmen bereit ist, zumal die USA, in der der Fed zusätzlich das Mandat der Vollbeschäftigung zukommt, einen überhitzten Arbeitsmarkt aufweist.
Ich halte es für absolut richtig, dass sich der EZB-Rat in diesem Jahr nun derart entschlossen der Inflationsbekämpfung verschrieben hat. Deutschland muss nach meiner festen Überzeugung der EZB bei diesem Kurs uneingeschränkt zur Seite stehen. Um es ganz deutlich zu sagen: Der von Christine Lagarde geführte EZB-Rat ist auf dem richtigen geldpolitischen Weg. Man darf sich nun aber auch nicht mehr von diesem Weg abbringen lassen und sollte neben weiteren, wohlüberlegten Zinserhöhungen Pläne zum graduellen Abbau der EZB-Wertpapierbestände vorlegen. Die Glaubwürdigkeit der EZB und des Euros als internationaler Reservewährung stünden sonst auf dem Spiel. Und nur so bleiben die Inflationserwartungen verankert.