Die Pazifistin
Von Martin Klingst
Dass Petra Würdig aus dem nordsächsischen Bad Düben im vergangenen Jahr bei den Grünen ausgetreten ist, hat auch mit Amerika zu tun. Noch im Bundestagswahlkampf 2021, nur wenige Monate vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine, hatte sie für ihre Partei Plakate mit dem Slogan „Keine Waffenlieferungen in Krisen-und Kriegsgebiete“ geklebt. Und nun das: Deutschland schickt der Ukraine Raketenwerfer, Panzerhaubitzen, Kampfpanzer und was sich sonst noch so alles an schwerem Militärgerät beschaffen lässt – und ausgerechnet die Grünen setzen sich dafür besonders ein. Das, sagt Würdig, habe sie nicht einmal in ihren schlimmsten Träumen für möglich gehalten.
Aus ihrer Sicht sind die Amerikaner mit daran schuld, am Krieg, an der Aufrüstung der Ukraine und dass Deutschland zu einem Hauptlieferanten für Waffen geworden ist. Ohne den „gewaltigen Druck aus Washington“, sagt die 67-Jährige, hätte sich die Regierung in Berlin wahrscheinlich stärker zurückgehalten.
Natürlich sei der russische Überfall „schlimm“ und „falsch“, sie sei auch keine Putin-Freundin, „absolut nicht“. Als Michail Gorbatschow noch im Kreml saß und die Mauer fiel, habe sie große Hoffnungen gehabt, aber die russischen Präsidenten vor und nach ihm: „alles alte, verbrauchte Männer“. Und dennoch: Dass die Nato unter amerikanischer Führung bis an Russlands Grenze vorgerückt sei, dass sich US-Firmen brennend für ukrainische Bodenschätze interessieren, am Krieg gut verdienen und ihn als Testfeld für ihre Waffen benutzen würden, das, betont Würdig mit großem Nachdruck, sei „auch ein Fakt“. Sie wolle sich nicht ausmalen, wie die Amerikaner wohl reagieren würden, beschlösse Russland einen Militärpakt mit Mexiko.
Die gelernte Dekorateurin, die nach der Wende 1989 ihr Geld zunächst in einem Raiffeisenmarkt, dann als Mitarbeiterin einer Firma für Etiketten und Werbemittel verdiente, die 2013 umsattelte und erst im Außendienst eines brandenburgischen Ökolandbaubetriebs und dann aus Liebe zum Laufsport im Außendienst eines Unternehmens für Laufbekleidung arbeitete und außerdem in all den Umbruchjahren zwei Jungen alleine großzog, sagt über sich selbst: „Ich bin ein Kind der DDR und schon immer Pazifistin gewesen“.
Ihre unbedingte Friedensliebe sog Würdig sozusagen schon mit der Muttermilch auf. Im Zweiten Weltkrieg verlor ihre Mutter den ersten Mann, der Sohn aus dieser Ehe hat seinen Vater nie kennengelernt. 1944 floh Würdigs Mutter vor den Bomben aus Naumburg, bei jedem Donner schrie ihr Säugling wie am Spieß. Die Erzählungen von Tod, Flucht und Zerstörung prägten auch Petra Würdigs Leben, bereits als kleines Kind hatte sie höllische Angst vor Krieg und Bomben.
In Würdigs Weltsicht haben nach 1945 vor allem die Amerikaner Kriege angezettelt – und weniger die Russen. Natürlich sei die blutige Niederschlagung der Volksaufstände in Ostberlin, Ungarn und der Tschechoslowakei „schrecklich“ gewesen. Würdig erinnert noch gut, wie im August 1968 sowjetische Panzer auf dem Weg nach Prag auch durch Bad Düben rollten. Sie war mit Freundinnen gerade aus dem Kino gekommen und konnte stundenlang nicht die Hauptstraße überqueren. Ihre Mutter war voller Panik, weil ihre Tochter nicht nach Hause kam.
Das Unrecht der einen mit dem Unrecht der anderen Nation zu vergleichen hält sie nicht für Whataboutism, sondern für „eine legitime Gegenüberstellung“
Doch die Amerikaner seien schlimmer gewesen, sagt Würdig. Das Unrecht der einen mit dem Unrecht der anderen Nation zu vergleichen hält sie nicht für Whataboutism, sondern für „eine legitime Gegenüberstellung“. Die USA, sagt sie, hätten im August 1945 zwei Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen und auf einen Schlag 100 000 Japaner getötet. An den Folgen der Verseuchung seien im Laufe der Jahre mindestens noch einmal so viele Menschen gestorben. Amerikas Interventionen in Lateinamerika, die grausamen Kriege in Vietnam, Afghanistan und Irak hätten zusammengerechnet Millionen von Opfern gefordert. „Die Geschichte der Vereinigten Staaten,“ sagt Würdig, „wurde von Anfang an mit Blut geschrieben, mit der Ausrottung der indigenen Bevölkerung.“
Dass auch die Gründung Russlands und der Sowjetunion einen hohen Blutzoll forderte, dass die Kremlherrscher fremde Völker unterjochten, Millionen Menschen deportieren und ermorden ließen, dass sie in Afghanistan und Tschetschenien brutale Kriege führten und Putins Luftwaffe noch heute Bomben auf Syrer abwirft – das sieht und kritisiert Petra Würdig auch. Aber in ihren Augen verblasst die russische Schuld hinter der amerikanischen. Noch immer ist sie der Roten Armee dankbar für den „friedlichen und freiwilligen“ Abzug aus der DDR nach dem Fall der Mauer.
Als Pazifistin hatte es Petra Würdig in der DDR nicht immer leicht. Ihre Antikriegshaltung, die Neigung, offen zu sagen, was sie denkt, fiel ihr schon als Kind manches Mal auf die Füße. Zum Beispiel 1967 im Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und einigen arabischen Staaten. Die DDR stand damals auf der Seite der Araber, die Bundesrepublik unterstützte Israel. Würdig ergriff für niemanden Partei, auch wenn sie es für fatal hielt, dass bei der Gründung Israels Hunderttausende von Palästinensern in die Flucht getrieben wurden. Petra Würdig wollte einfach keinen Krieg. Schluss, Punkt! „Krieg, egal aus welchem Grund er geführt wird,“ sagt sie, „bringt immer nur Leid und Elend.“ In der DDR wurde sie für diese Meinung schief angeguckt.
Die Vereinigten Staaten von Amerika waren für Würdig lange eine ferne, fremde Welt, ein eher feindliches Land, ein Hort des Bösen. Die kommunistische DDR-Propaganda, sagt sie, habe Spuren hinterlassen. Würdig wusste, wer Martin Luther King und Angela Davis waren, der Kampf der schwarzen Bürgerrechtler gegen den Rassismus der weißen Amerikaner wurde auch von der DDR gefeiert. Als Kind verschlang sie die Abenteuerromane des US-amerikanischen Schriftstellers Jack London, die es auch in der DDR zu kaufen gab, London war bekennender Sozialist. Würdig teilte seine Begeisterung für Tiere, für die Natur und die Lebensweise indigener Bevölkerungen. Und wie so viele Teenager in der DDR träumte auch Würdig von einer Blue Jeans. Die erste kaufte sie sich von ihrem Ersparten nach der Jugendweihe.
„Dieses ‚Wir-sind-die-Besten-in-der-Welt‘ ging mir gehörig auf die Nerven.“
1989, noch vor dem Ende der DDR, sah sie nach einem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche im Kino den Antikriegsfilm „Platoon“ und bald darauf im Fernsehen „Apocalypse Now“, beide US-amerikanische Filme schildern den Horror und Wahnsinn des Vietnamkriegs. Fünf Jahre später reiste Petra Würdig zum ersten und bislang einzigen Mal in die USA. Der Besuch war einem glücklichen Zufall geschuldet. Würdigs jüngerer Sohn hatte 1994 einen Kurztrip nach Florida gewonnen und seine Mutter gebeten, ihn zu begleiten. Im Großstadtgewirr von Miami fragte der Reiseleiter: „Können Sie verstehen, dass es für Sie sehr gefährlich werden kann, wenn Sie sich hier verirren?“ Petra Würdig verstand. „Um keinen Preis wäre ich dort alleine langgelaufen,“ sagt sie und schüttelt sich noch immer vor Entsetzen, dass so viele Amerikaner eine Waffe tragen und damit herumschießen. Sie fand damals viele Amerikaner zu protzig und auftrumpfend. „Dieses ‚Wir-sind-die-Besten-in-der-Welt‘ ging mir gehörig auf die Nerven.“
Natürlich gefällt ihr auch manches an den USA: etwa, dass Einwanderer, die dort arbeiten wollen und sich integrieren, eine Greencard erhalten. Oder die Betonung der individuellen Freiheit, dass sich so viele Amerikaner während der Corona-Epidemie gegen eine Impfpflicht gewehrt haben. Und dass sich mit Robert Kennedy, einem Neffen des legendären US-Präsidenten John F. Kennedy, ein entschiedener Impfkritiker um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei bewirbt.
Auch Petra Würdig demonstrierte daheim in Bad Düben jeden Montag auf dem Marktplatz gegen eine staatliche Impflicht: „Wer sich impfen lassen will, soll das tun,“ sagt sie, „wer es nicht möchte, soll bitteschön in Ruhe gelassen werden.“ Allerdings blieb sie dem Protest fern, als sich „zu viel braune Soße daruntermischte“. In Nordsachsen, klagt sie, wählten zu viele Menschen die AfD. Manche Äußerungen der Rechten würden in ihrer Schwiegermutter „böse Erinnerungen an die Dreißigerjahre“ wachrufen, sie habe diese schlimme Zeit noch erlebt.
Gerne würde Würdig noch einmal die USA besuchen. Eine Reise nach Alaska, in die Rocky Mountains und den Yellowstone Park, in Amerikas großartige Natur, sagt sie, wäre „ein Traum“. Die Bewahrung der Natur liegt Würdig am Herzen, um sie besser zu schützen, trat sie 2010 bei den Grünen ein. Schon in der DDR hatte sie sich für den Erhalt der Dübener Heide eingesetzt und nachts heimlich Protestplakate aufgehängt, als diese Landschaft für die darunter liegende Braunkohle aufgebaggert werden sollte. Dann kam die Wende und die Pläne waren vom Tisch. Würdig freut sich, dass die Dübener Heide inzwischen als ein sogenanntes FFH-Gebiet ausgewiesen ist, als eine Region, in der Fauna, Flora und Habitat unter besonderem Schutz stehen.
„Mit Panzern“, so Würdig, „schafft man keinen Frieden, sondern nur mit Diplomatie, mit Reden und Verhandlungen.“
Wie die Natur ist ihr auch das Wohl der Tiere ein besonderes Anliegen. Anders als so mancher Bauer findet es Würdig prima, dass sich in der Gegend wieder Wölfe angesiedelt haben. Und noch gemeinsam mit den Grünen konnte sie die Schließung einer Pelztierfarm erreichen und den Bau von Aufzuchtanlagen für Junghennen und Säue verhindern. Doch dann kam es zum Bruch mit ihrer ehemaligen Partei. Zunächst weil ihr Sachsens grüner Umweltminister nicht grün genug war, dann wegen der Unterstützung für Waffenlieferungen. „Mit Panzern“, so Würdig, „schafft man keinen Frieden, sondern nur mit Diplomatie, mit Reden und Verhandlungen.“ Kompromisse seien immer schmerzlich, sagt sie, „aber mit Verlaub, Krieg ist schlimmer, Krieg ist immer Scheiße – für alle!“
Anfang des Jahres hat Würdig das von der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer initiierte „Manifest für Frieden“ unterschrieben. Darin wird Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, „die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen“ und sich „an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen“ zu setzen. Würdig wäre gerne am 25. Februar 2023 zur großen Demonstration der Unterzeichner nach Berlin gefahren, konnte aber nicht. Ginge es nach ihr, wäre Deutschland nach der Wende neutral geworden und gehörte heute keinem Militärbündnis mehr an.
Die vielen blauen Fahnen mit der Friedenstaube bei der Demo vor dem Brandenburger Tor haben sie schwer beeindruckt. Dass auch AfD-Mitglieder dabei waren und dieses Symbol schwenkten, stört sie nicht. „Solange sie Pazifisten sind, soll es mir recht sein.“ Wenn ihr Wohnmobil wieder flott ist und sie mit ihrem Mann auf Urlaubsreise geht, will Petra Würdig hinten eine große Friedenstaube draufkleben, „als kompromissloses Zeichen für Frieden“.