Die Rolle des Westens in Zeiten globaler Unordnung
Die Ideengemeinschaft demokratischer Staaten zerstöre sich seit 30 Jahren selbst, schreibt Peter Neumann in seinem neuen Buch. Der Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London und Omid Nouripour, MdB (Bündnis 90/Die Grünen) und Co-Vorsitzender seiner Partei, diskutierten in einer Book Note der Atlantik-Brücke die Implikationen von Neumanns Analyse.
Von Robin Fehrenbach
Der Handlungsbogen des unlängst veröffentlichten Buches „Die neue Weltunordnung“ von Peter Neumann reicht vom Ende des Kalten Krieges bis heute und kommt zu einer niederschmetternden Einschätzung für die transatlantischen Partner. Der Westen sei im Verlauf dieser rund 30 Jahre Zeitgeschichte dabei, sich selbst zu zerstören, wie der Professor für Sicherheitsstudien am King’s College in London bereits im Untertitel seines Werkes als zentrale These präsentiert. „Wie konnte es sein, dass der Westen mit dem Fall der Berliner Mauer so optimistisch war, dass sich Demokratie, Freiheit und Marktwirtschaft gewissermaßen von allein auch in anderen Teilen der Welt durchsetzen werden?“ Dieser übergeordneten Frage gehe seine Analyse nach, erläuterte Neumann in Berlin im Gespräch mit dem Grünen-Vorsitzenden Omid Nouripour. Moderiert wurde die Veranstaltung von Julia Friedlander, Geschäftsführerin der Atlantik-Brücke.
Neumann führte für sein Buch Interviews mit insgesamt 75 Zeitzeugen und Experten. Daraus kristallisierte sich, dass zunächst eine Phase des Optimismus vorherrschte, gefolgt von einer Phase der Hybris und schließlich einer Phase der Krise. Eine „liberale Selbstüberschätzung, Ignoranz und Arroganz“ sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch in Europa habe zu dieser Entwicklung beigetragen, legte der Autor dar. Der Westen sei dabei als Ideengemeinschaft demokratischer Staaten zu verstehen, die freiheitlich agierten und vom technologischen Fortschritt überzeugt seien. Neumann will seine Arbeit bewusst nicht als Abgesang auf den Westen als normatives Projekt verstanden wissen. Der Zweck des Buches sei vielmehr ein optimistischer: „Wir sollten aus den Fehlern der vergangenen 30 Jahre lernen und können uns als nachhaltige Moderne neu erfinden.“ In diesem Prozess sieht sich der politische Westen Neumann zufolge mit drei fundamentalen Herausforderungen konfrontiert – mit dem Aufstieg Chinas, dem Klimawandel und inneren Instabilitäten.
Afghanistan als Trauma der westlichen Machtprojektion
Die diversen Epochenbrüche habe Neumann akkurat beschrieben, sagte Nouripour in seiner Erwiderung. Eurozentristische Ignoranz sei einer der Gründe für den Optimismus nach 1989/90 gewesen. Zwar sei die Analyse zutreffend, dass der Westen in seiner Geopolitik oftmals kulturelle Aspekte, religiöse Einflussfaktoren und regionale Spezifika nicht mitgedacht habe. So stelle das Scheitern des Westens in Afghanistan 20 Jahre nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 ein „Trauma der westlichen Machtprojektion am Hindukusch von noch nicht verstandener Tragweite“ dar. Allerdings gebe es grundsätzlich in vielen Weltregionen einen großen Freiheitsdrang, der sich etwa in unablässigen Versuchen zeige, autoritär verordnete Zensur zu umgehen. Die Frage sei, ob dies dem Westen nütze, kommentierte Neumann die Ausführung von Nouripour. Wenn zum Beispiel 300 bis 400 Millionen Menschen in China in den letzten 20 Jahren der Armut entkommen seien, bejahe er diese Frage ausdrücklich, so der Grünen-Parteichef.
Nouripour würdigte das „bedingungslose Bekenntnis zum Westen“, das Neumann bei aller Kritik an den Fehlentwicklungen seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bis heute zum Ausdruck bringe. „Wir leben in einer Zeit, in der man darum kämpfen muss, all die Errungenschaften des Westens zu verteidigen“, betonte Nouripour und sprach die hohe Bedeutung des Freihandels an. In diesem müsse zwingend das Prinzip der Reziprozität zum Tragen kommen, denn ansonsten seien unfaire Handelspraktiken an der Tagesordnung, die internationale Regeln und multilaterale Verträge verletzten. Die hervorragenden technologischen Industrie-Standards seien ein Wettbewerbsvorteil des Westens und sollten hochgehalten werden. Dazu sollten wieder mehr westliche Vertreter in den internationalen Institutionen mitwirken. Neumann bemerkte, dass der westliche Glauben an das Prinzip „Wandel durch Handel“ nicht aufgegangen sei. Stattdessen gebe es verstärkt Autoritarismus in der Welt. Die Annahme sei naiv gewesen, dass Staaten wie China und Russland von westlichen Ländern abhängig seien, wo doch das Gegenteil der Fall sei.
Konflikt zwischen wertegeleiteter Außenpolitik und strategischen Interessen
In ihrer systemischen Rivalität bestehe der Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Autokratie darin, dass Demokratien zu Korrekturen fähig seien, hob Nouripour hervor. Es wäre besser und ehrlicher, wenn der Westen eingestehen würde, neben der Verteidigung von Werten auch strategische Interessen zu verfolgen, sagte Neumann: „Der Westen gibt nicht zu, dass er einen Konflikt zwischen Werten und Interessen austrägt.“ Es gelte, die ständige Abwägung zwischen beiden sichtbar zu machen. Wenn man die Lücke zwischen Werten und Interessen nicht schließe, sei genau dies ein doppelter Standard, sagte Nouripour. „Der Westen ist unser Wertemantel, den wir schützen müssen, wenn wir im Systemwettbewerb bestehen wollen.“
Mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und der daraufhin vollzogenen Zeitenwende sei der Westen sehr schnell wieder positiver wahrgenommen worden, sagte Neumann in der anschließenden Diskussion mit den Mitgliedern und Gästen. Dies sei eine echte Veränderung. Zwei realpolitische Imperative seien auf dem Weg zu möglichen Verhandlungen entscheidend. Erstens müsse der Westen dafür sorgen, dass Präsident Putin einen Preis für den Überfall auf die Ukraine zahlen muss. Zweitens müsse die internationale Staatengemeinschaft die strategisch komplexe Situation vom Ende her denken. Dies heiße, Interesse an einem relativ stabilen Russland zu haben, da das Land ein wichtiger geopolitischer Akteur sei, der über Atomwaffen verfügt. Nouripour stellte fest, dass alle dazu bereit seien, wenn Russland verhandeln wolle. Es sei klar, dass nach dem Krieg in der Ukraine Russland ein integraler Bestandteil der europäischen Nachbarschaft sei.
Diese Veranstaltung fand mit freundlicher Unterstützung der Kooperationspartner Monarch und Google statt.