Gesellschaft

Die Strategie der Demokraten für November

Keine Experimente—the American way
Die Strategie der Demokraten für November Michael Werz

von Michael Werz

Als Konrad Adenauer 1957 mit dem Slogan „Keine Experimente“ in Deutschland 1957 die absolute Mehrheit gewann, erwies sich sein wertkonservativer Antikommunismus als erfolgreich. Die Warnung vor politischen Programmen gesellschaftlicher Neuorientierung war gemeinhin das Metier traditioneller Konservativer. In den USA hat der Demokrat Joe Biden sich nun eine Variante dieser Strategie zu eigen gemacht — von der Wahl der ehemaligen Staatsanwältin Kamala Harris als Vizepräsidentschafts-Kandidatin über die zahlreichen Treffen in Kirchen und mit religiösen Würdenträgern hin zu seinem Auftreten als verständnisvoller Landesvater: Die Biden Campaign setzt auf die politische Mitte, hofft auf die Stimmen von Republikanern, die der eigenen Partei entfremdet sind, und investiert zugleich viel Zeit und politisches Kapital in die leise Integration der Parteilinken um die Senatoren Bernie Sanders und Elizabeth Warren.

Keine einfache Aufgabe, denn viele junge Wählerinnen und Wähler erwarten aggressivere Reformversprechen zu Rassismus, Klimawandel, Gesundheitsvorsorge, sozialem Ausgleich und Bildungskosten. Nun erlaubt ein selbst für den Kandidaten unerwarteter Spendenfluss von über 364 Millionen Dollar im August massive Investitionen in Fernsehwerbung, soziale Medien und die direkte Ansprache von Erstwählerinnen und -wählern. Dieser Fokussierung war scharfe Kritik von Vertretern der in der Kampagne aus unerklärlichen Gründen noch immer unterrepräsentierten Latinos und Klima-Aktivisten vorausgegangen.

Kamala Harris spielt in dem massiven outreach Programm eine zentrale Rolle. Die Partei bringt Prominente und Stars aus Sport und Kultur in die vielen virtuellen Politdebatten ein. Das Signal: Joe Biden versteht euch und nimmt eure Sorgen ernst. Biden hat bei Wählerinnen und Wählern unter 34 Jahren zwar einen Vorsprung von 20% vor Donald Trump, aber die Zahlen könnten besser sein. Die zentralen Referenzpunkte sind dabei die nationale Diskussion zu Rassismus und die Black Lives Matter Bewegung. Der Mord an George Floyd in Minneapolis bot der Kampagne eine unerwartete Plattform, diese Themen aus einer Position der politischen Mitte und des Gemeinwohls aufzunehmen.

Junge Wählerinnen und Wähler erwarten aggressivere Reformversprechen

Darüber hinaus kommt Biden eine überfällige Mentalitätsveränderung bei vielen weißen Mittelschichtsangehörigen zugute, die die endlose Benachteiligung von Schwarzen nicht nur aus moralischen Gründen leid sind, sondern in einer immer heterogeneren U.S.-Gesellschaft verstehen, dass mehr Gleichberechtigung auch den wohlverstandenen Eigeninteressen entspricht. In einer diese Woche veröffentlichten Pew Umfrage sagten 74% der Biden-Wählerinnen und Wähler, dass es „schwieriger ist, in diesem Land eine schwarze Person zu sein als eine weiße“. Unter den Trump-Wählerinnen und -Wählern herrscht indes, wie nicht anders zu erwarten, die von der Parteiführung praktizierte Wirklichkeitsverleugnung der Wutbürger vor. Nur 9% unter ihnen stimmten zu. (Bei der Frage nach der Gleichberechtigung von Frauen sagten 79% der Biden-Wählerinnen und -wähler, dass es Probleme gebe und nur 26% der Trump-Wählerinnen und -wähler stimmten zu).

Für Donald Trump ist diese Entwicklung eine der vielen Bedrohungen für den Erhalt seiner Macht. Im Kontext der zunehmenden Mobilisierung von Erstwählern unterschrieb er kürzlich ein wahrscheinlich illegales Dekret, um den Konformitäts-Druck auf Google, Facebook und Twitter weiter zu erhöhen. Doch dies ist nur eine der vielen Herausforderungen, mit der eine politische Kampagne zu kämpfen hat, die sich an die demokratischen Spielregeln der USA hält. Dies gilt besonders, da Donald Trump die öffentliche Verwaltung, das Militär, die Nationalgarde und die Inlandsgeheimdienste politisiert und nicht widerstandsfähiges Führungspersonal in ein persönliches Loyalitätsverhältnis gezwungen hat. Hinzu kommt die präsidiale Angst- und Panikkampagne in Zeiten deutlich zurückgehender Kriminalitätsraten, die nicht nur gewalttätige weiße Milizen mobilisiert, die inzwischen die größte terroristische Bedrohung für die USA darstellen. In einem solchen Klima eine auch nur in Ansätzen aufklärerische politische Debatte zu führen, ist sehr schwer. Die Zerstörung politischer Institutionen und Verfassungstraditionen entspricht nicht nur Donald Trumps Geisteshaltung, es ist auch der verzweifelte Versuch einer Partei, die sich seit mindestens einem Jahrzehnt in einer strukturellen Minderheit weiß, durch Demagogie und systematische Erschwernis der Stimmabgabe von potenziellen demokratischen Wählern noch einmal den Machterhalt zu sichern.

Ob diese Taktik der politischen Verwahrlosung aufgeht, ist fraglich. Die Biden-Kampagne hat erstmals die Möglichkeit, eine neue Strategie zu verfolgen, die von den Beratern des Kandidaten etwas martialisch als Zwei-Fronten-Krieg bezeichnet wird. Trump gewann die Wahlen 2016, weil er im sogenannten Rust Belt, den alten Industrieregionen des Mittleren Westens, ehemals demokratische Bundesstaaten wie Michigan, Pennsylvania und Wisconsin gewann. In all diesen Bundesstaaten hat Joe Biden im Moment recht solide Vorsprünge.

Gesellschaftliche Umbrüche in den Südstaaten eröffnen Chancen für Joe Biden.

Aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche in den Südstaaten des sogenannten Sun Belt eröffnen sich Chancen für Joe Biden. Dies geschieht in einer Region, die seit der Bürgerrechtsgesetzgebung Mitte der sechziger Jahre unter Lyndon B. Johnson und dem folgenden Exodus reaktionärer Dixiecrats und deren Einwanderung in die republikanische Partei meist als verlorenes Terrain galt. 2020 sind unter anderem North Carolina, Florida und Arizona in Schlagdistanz. Das hat damit zu tun, dass die Bevölkerung in diesen Staaten sehr viel heterogener ist als noch vor wenigen Jahren. Minderheiten sind unter Erstwählern inzwischen in der Mehrheit, und hinzu kommt eine neue Generation junger Weißer, die dabei ist, Ressentiments der Elterngeneration hinter sich zu lassen. Besonders das lange konservative Arizona ist exemplarisch für diese geographischen und politischen Verschiebungen. Und weil ein Wahlsieg Donald Trumps ohne die 29 Wahlmann-Stimmen in Florida fast undenkbar ist, kämpft die GOP dort auch mit besonders harten Bandagen und hat eine wilde Desinformationskampagne gegen Latinos losgetreten.

Gemeinsam mit der Konsolidierung demokratischer Wählerschaft in besser gebildeten und wohlhabenderen Bundesstaaten wie Virginia und Colorado, die sich bereits über die vergangenen zehn Jahre abzeichnete, kann die Biden-Kampagne also eine Doppelstrategie gegen Donald Trump fahren, die enorme finanzielle Ressourcen in einer Vielzahl von Staaten bindet. Anders als in Michigan, Minnesota, Pennsylvania und Wisconsin, wo weiße Wählerinnen und Wähler ohne weiterführenden Bildungsabschluss („non-college whites“) die Mehrheit sind, steigt der Anteil von wahlberechtigten Angehörigen von Minderheiten in Arizona, Nevada, Texas, Georgia und North Carolina dramatisch. Alle vier Jahre gibt es allein über drei Millionen neue Latino-Wähler. Ob diese Veränderungsprozesse sich in genügend Stimmen niederschlagen, um die Vereinigten Staaten wieder in die politische Zivilisation zurückzuführen, wird sich zeigen. In der Biden-Kampagne ist man, wie ein hochrangiger Berater des Kandidaten sagte, „optimistisch, aber enorm angespannt“.

Michael Werz ist Mitglied im Vorstand der Atlantik-Brücke und Mercator Senior Fellow (2020-2021) sowie Senior Fellow am Center for American Progress, einem progressiven Think Tank in Washington DC.

Bleiben Sie auf dem Laufenden und abonnieren Sie unsere Newsletter RECAP & INSIGHTS.