„Die Volatilität der internationalen Ordnung hat sich verstärkt“
Im Atlantik-Brücke-Interview spricht Prof. Dr. Gunther Hellmann, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, darüber, warum die Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik schon vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine begann, inwiefern die deutsche Sicherheits- und Außenpolitik wirklich einen Wandel durchlaufen hat, und ob die derzeitige internationale Machtstruktur mit der bipolaren Machtstruktur des Kalten Krieges zu vergleichen ist.
„Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung“, so Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022. Sie sehen die Zeitenwende bereits mit der Besetzung der Schwarzmeerhalbinsel Krim durch Russland 2014 gekommen. Könnten Sie dies näher ausführen?
In einem Beitrag für eine Fachzeitschrift habe ich bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 in der Tat von einer „Zeitenwende“ der deutschen Außenpolitik gesprochen, weil in der Phase zwischen 2014 und 2017 gleich drei grundlegende Pfeiler bundesdeutscher Außenpolitik erschüttert wurden, die in unterschiedlicher Weise seit den 1950er Jahren von tragender Bedeutung für die Positionierung Westdeutschlands waren: Neben der Annexion der Krim und dem schwelenden Krieg in der Ostukraine waren dies Großbritanniens „Brexit“ und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten.
Putins Annexion der Krim und die Unterstützung separatistischer Kräfte in der östlichen Ukraine markierte aus deutscher Sicht das zumindest vorläufige Ende der Hoffnungen auf eine „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland, die gerade der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier bereits 2008 als zeitgenössisches Äquivalent Brandt’scher „Neuer Ostpolitik“ propagierte. Ein Einschnitt im größeren historischen Kontext deutscher Außenpolitik war Putins Vorgehen 2014 vor allem deshalb, weil es der seit den späten 1970er Jahren auf „Entspannung“ und (nach 1990) „Anbindung“ von Russland an westliche Sicherheitsstrukturen ein jähes Ende setzte.
Die gravierenderen Einschnitte markierten aus dem Blickwinkel deutscher Außenpolitik allerdings die „Brexit“-Entscheidung der Briten und die Wahl Donald Trumps als US-Präsident 2016, da beide in gewisser Weise die alte Westbindung unmittelbar erschütterten. Das Projekt der europäischen Integration kannte seit den frühen 1950er Jahren nur eine Entwicklungsrichtung: „Vertiefung“ im Sinne der stetigen Ausweitung intergouvernementaler und supranationaler Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten und gleichzeitig „Erweiterung“ der Mitgliedschaft über den Kern der ursprünglichen sechs Gründungsmitglieder hinaus. „Brexit“ markierte einen Schock, weil damit der zentrale Stützpfeiler bundesrepublikanischer Nachkriegsaußenpolitik ins Wanken geriet.
Noch deutlicher als durch das „Brexit“-Votum der Briten trat der radikale Wandel grundlegender Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik allerdings durch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten zu Tage. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es keinen vergleichbaren Einbruch in den sich stetig vertiefenden deutsch-amerikanischen Beziehungen gegeben, der das Grundvertrauen der Deutschen in die Schutzgarantien und die Verlässlichkeit der USA so massiv erschütterte. In klassisch zurückhaltender Formulierung sah Angela Merkel „die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten (…) ein Stück weit vorbei“ und mahnte die Europäer nun ihr „Schicksal wirklich in die eigene Hand“ zu nehmen.
Alle drei Erschütterungen wirken bis in die Gegenwart nach und wurden durch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine sogar noch akzentuiert.
Wie bewerten sie die Fortschritte der seit dem russischen Angriffskriegs auf die Ukraine begonnenen Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, und wie wirkt sie sich auf die Rolle Deutschlands in Europa aus?
Die Kurzformel wäre: zwiegespalten! Auf der einen Seite ist unübersehbar, wie grundlegend sich nicht nur der sicherheitspolitische Diskurs in Deutschland, sondern auch die praktisch sichtbare militärische Ausrichtung verändert haben. Ersteres ist am auffälligsten im Blick auf die SPD und ihre traditionell russlandfreundliche und tendenziell militärkritische Orientierung – hier ist der Wandel am weitreichendsten. In praktischer Hinsicht ist nicht zu unterschätzen, dass Deutschland mit der Abkehr von der grundsätzlichen Ablehnung, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, einen fundamentalen Schwenk vollzogen hat.
Für manche Beobachter – und da beginnt die Kehrseite der zwiegespalten Bewertung – ist das alles noch nicht weitgehend genug und auch kommunikationsstrategisch viel zu unprofessionell verpackt. Das macht sich insbesondere an der durchaus nachvollziehbaren Kritik an Bundeskanzler Scholz fest, viel zu langsam zu entscheiden und zudem „schlecht zu kommunizieren“. Zudem ist – auch für professionelle Beobachter – schwer nachvollziehbar, wie es vor dem Hintergrund des radikalen „Zeitenwende“-Einschnitts und der entsprechenden Grundgesetzänderung im Zuge der Einrichtung eines Sondervermögens Bundeswehr bereits im Frühsommer letzten Jahres so lange dauern kann, bis endlich die entsprechenden Beschaffungsaufträge auf den Weg gebracht werden; bei einigen dringlichen Beschaffungen (wie der frühzeitig benannten extremen Defizite im Munitionsbereich) geht es ja keineswegs um diffizile technischen Neuentwicklungen o.ä.. Da besteht also nach wie vor massiver Nachhol- und Beschleunigungsbedarf.
Für die Rolle Deutschlands in Europa werden die gegenwärtigen Entwicklungen signifikante Auswirkungen haben. Denn wenn Deutschland nicht nur (offenkundige) wirtschaftliche Führungsmacht ist, sondern zukünftig, nach einer Behebung der allseits konstatierten Defizite, auch militärische Führungsmacht werden soll, wird das die Machtbalance innerhalb der EU signifikant verändern und zusätzliche Anforderungen an das Führungsgeschick deutscher Außenpolitik zur Folge haben.
Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler betrachten die Bipolarität des internationalen Systems während des Kalten Krieges mit den beiden Supermächten USA und Sowjetunion als eine historische Ausnahme. Wo liegen die Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten der sich gegenwärtig abzeichnenden bipolaren Machtstruktur des 21. Jahrhunderts mit den beiden Großmächten USA und China im Vergleich zur Bipolarität des Kalten Krieges?
Festzuhalten ist zunächst, dass die alte Beschreibung der Welt im Sinne einer „liberalen Weltordnung“ nicht nur auf immer mehr Kritik einer „autoritären Internationalen“ trifft, sondern auch hinsichtlich ihrer inneren Stimmigkeit immer weniger überzeugt. Die Prinzipien dieser Ordnung sind in den letzten zehn Jahren aus unterschiedlichen Zirkeln zunehmend in Frage gestellt worden und haben auch die Volatilität internationaler Ordnung verstärkt.
In meiner Analyse ist es potenziell produktiv, die gegenwärtige globale Ordnung im Sinne eines „strategischen Rechtecks“ zwischen den USA (einschließlich Kanadas), Europa (plus Großbritannien), sowie China und Russland zu beschreiben. Diese Beziehungen als „strategisches Rechteck“ zu konzeptualisieren, heißt (a) die vier globalen Machtzentren in bilateraler Hinsicht jeweils als „significant others“ füreinander zu begreifen (natürlich mit der Maßgabe, dass die spezifische Bedeutung jedes einzelnen für die je anderen drei unterschiedlich ausfällt) und (b) das Muster der bündnispolitischen (Neu-)Ausrichtung, des machtpolitischen Wettbewerbs oder der gezielten Konfrontation, in jedem der vier bilateralen Segmente, Auswirkungen auf die jeweils anderen drei Seiten haben und somit die Dynamik im gesamten strategischen Rechteck tangieren wird. Darüber hinaus wird die Entwicklung der bi- und multilateralen Beziehungen und Dynamiken in diesem Rechteck auch erhebliche Auswirkungen auf die globale Ordnung haben.
Vor dem Hintergrund des Putin’schen Angriffskriegs auf die Ukraine hat sich eine gewisse Bipolarisierungstendenz zwischen dem „Westen“ einerseits und China und Russland andererseits ergeben, aber mit schwindender Bedeutung des Krieges (sei es dass er „einfriert“ oder in einen Waffenstillstand mündet) wird es im Rechteck auch zu Lockerungstendenzen kommen. Die Achse USA-China ist eindeutig zentral und man kann absehbar davon ausgehen, dass weder Russland noch den USA an einer langfristigen strukturellen Abhängigkeit Russlands von bzw. einer entsprechenden politischen Ausrichtung auf China gelegen sein kann.
Auch wenn wir derzeit also Bipolarisierungstendenzen zwischen einem neuen „Osten“ und dem alten „Westen“ im Allgemeinen und den USA und China im Besonderen beobachten, so mündet das nach meiner Auffassung nicht in eine neue Bipolarität, weil die Bündnisse weder hermetisch geschlossen sind noch die Machtverteilung in zwei Polen ruht wie zwischen den 1950er und 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Selbst wenn sich die Konfrontation zwischen den USA und China weiter verhärten sollte – und dies scheint mir in der Tat nicht unwahrscheinlich zu sein – bedeutet es nicht, dass man Russland oder die EU machtpolitisch so marginalisieren könnte, wie dies bei den anderen größeren Staaten und Staatengruppen (also etwa China oder Indien bzw. die sog. „Blockfreien Staaten“) im alten Ost-West-Konflikt der Fall war.
Prof. Dr. Gunther Hellmann ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er unterrichtete auch am SAIS Bologna Center der Johns Hopkins University sowie am Dartmouth College. Professor Hellmann war Senior Fellow der Transatlantic Academy in Washington, D.C. und des Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research in Duisburg. Seit 2002 ist er außerdem einer der Herausgeber der „Zeitschrift für Internationale Beziehungen“ (ZIB) und seit 2017 Präsident des „World International Studies Committee“ (WISC), sowie seit 2015 Vorstandsmitglied des Aspen Institute Germany.