Wirtschaft und Finanzen

Ein optimistischer Blick auf die Zukunft unserer Kapitalmärkte

Dr. Ingrid Hengster, Country CEO Germany & Global Chairwoman Investment Banking, Barclays, beantwortet im folgenden Kurzinterview zu unserer Veranstaltung „Innovativ aus der Krise: Wie die Integration des europäischen Kapitalmarktes gelingen kann“ Fragen zur Europäischen Kapitalmarktunion, erläutert deren Vorteile und ob der Ausgang der Europawahl die Kapitalmarktunion verhindern könnte.

Liebe Frau Hengster, das Frankfurt Luncheon vom 14. Juni drehte sich um die Frage, wie die Integration der europäischen Kapitalmärkte hin zu einer echten Kapitalmarktunion gelingen kann. Für wie realistisch schätzen Sie die Umsetzung dieses Vorhabens vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Europawahl ein?

Die Idee der Kapitalmarktunion ist nicht neu. Als europapolitisches Ziel erstmals prominent benannt hatte sie vor ziemlich genau zehn Jahren Jean-Claude Juncker in seiner Antrittsrede vor dem EU-Parlament im Juli 2014. Ich habe allerdings den Eindruck, dass in den vergangenen Monaten erneut Schwung und Ernsthaftigkeit in die Debatte gekommen sind. Die Berichte Noyers und insbesondere Lettas mit seiner Vision einer Spar- und Investitionsunion haben kluge Impulse gesetzt. In meinen Gesprächen mit politischen Verantwortungsträgern nehme ich einen zunehmenden Gestaltungswillen wahr. Der neue Elan überrascht nicht: Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit – Dekarbonisierung, Digitalisierung und Altersvorsorge – erfordern massive Investitionen. Auch die neu entfachte Debatte um Europas globale Wettbewerbsfähigkeit verleiht dem Projekt Auftrieb. Als Investmentbankerin bin ich überzeugt, dass wir all diese Prüfungen nur mit starken Kapitalmärkten erfolgreich meistern können. Daran ändern auch die Ergebnisse der jüngsten Europawahlen nichts.

In ihrem Impulsvortrag hoben Sie die Bedeutung der Kapitalmarktunion für zwei Bereiche hervor: die Altersabsicherung/Rentensicherung und die grüne Transformation der Wirtschaft. Welche Vorteile könnte eine echte Kapitalmarktunion für diese beiden auf den ersten Blick gänzlich unterschiedlichen Bereiche haben?

Die Grundregel der Finanzmärkte lautet: Höheres Risiko und höhere Renditen gehen grundsätzlich Hand in Hand. Frühe Investitionen in Zukunftstechnologien sind oftmals insofern riskant, als die einmal durch sie abgeworfenen Gewinne sich erst Jahre oder Jahrzehnte später realisieren. Für die Finanzierung der grünen Transformation spielen Kapitalmarktakteure mit ihrem gegenüber Kreditbanken erhöhten Risikoappetit daher eine besondere Rolle. Auf der anderen Seite lockt bei bahnbrechend visionären Projekten ein deutlich überdurchschnittlicher Gewinn, wenn sie denn von Erfolg gekrönt sind. Wer den Grundstein für eine neue Schlüsseltechnologie wie beispielsweise der effizienten Nutzung von Wasserstoff legt, wird damit einmal sehr viel Geld verdienen können – vermutlich genug, um mindestens die eigene Rente zu sichern. Hier schließt sich der Kreis zwischen beiden Transformationen. Die Kapitalmarktunion könnte idealerweise zum Bindeglied zwischen grüner Transformation und nachhaltiger Altersvorsorge werden, weil sie Kapitalanbieter und Kapitalnachfrager europaweit effizient zusammenführt. Die Vision ist diese: Innovative Unternehmen erhalten in jeder Wachstumsphase flexiblen Zugang zu Kapital, um ihre technologischen Ideen zu verwirklichen. Das ist die Nachfrageseite des Kapitalmarkts in der Transformation. Junge Menschen können einen signifikanten Teil ihrer staatlichen Altersvorsorge und einen geförderten Teil ihrer privaten Vorsorge am Kapitalmarkt anlegen, um im Alter von den Erträgen zukünftiger Technologien und den durch sie erst ermöglichten Geschäftsmodellen zu profitieren. Das ist die Angebotsseite des Kapitalmarkts in der Transformation. Was beide Seiten verbindet, ist ein aufeinander abgestimmtes Mischverhältnis zwischen bewusster Risikoaufnahme und verlässlicher Renditeerwartung.

Der amerikanische Kapitalmarkt zieht seit Langem Unternehmen und Privatpersonen aus allen Weltregionen an und gilt als der stärkste der Welt. Kann Europa, selbst wenn es wollte, auch nur annähernd eine vergleichbare Kapitalmarkt-Kultur aufbauen oder sind Europäerinnen und Europäer insgesamt zu risikoavers?

Die Ausgangslage in Europa ist eine andere als in den USA. In Deutschland ist der Kreditmarkt knapp viermal so groß wie der Kapitalmarkt – in den USA fällt das Verhältnis genau spiegelbildlich aus. Unsere europäischen Kreditbankensysteme sind historisch lange gewachsen und dementsprechend fest institutionell verankert. Wenn wir den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft richten, können wir allerdings eine spannende Tendenz beobachten: Junge Menschen zeigen sich auch in Europa wesentlich offener für Aktieninvestitionen als die älteren Generationen. Sie informieren sich in digitalen Medien über verschiedene Anlagemöglichkeiten, partizipieren selbst direkt am Kapitalmarkt und tauschen sich innerhalb ihrer Altersgruppe offen über ihre Investments aus. Getrieben haben diese Entwicklung neben der langen Niedrigzinsphase auch die Digitalisierung und die bescheidenen Aussichten auf eine im Alter ausreichende staatliche Rente. Die Europäer mögen nicht besonders risikoaffin sein, aber sie sind sicher nicht renditeavers. Insofern sehe ich durchaus optimistisch auf die Zukunft unserer Kapitalmärkte, auch wenn der Abstand zu den USA vorerst bestehen bleiben dürfte.

 

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