„Europa braucht jetzt die Kapitalmarktunion“
Ein Gastkommentar von Dr. Fritzi Köhler-Geib.
Tiefgreifende Veränderungen begleiten die Menschheitsgeschichte. Allerdings haben bahnbrechende Innovationen erst mit wettbewerblichen Märkten und Patentschutz seit der Industriellen Revolution zu Wohlstandsgewinnen für die Gesellschaft geführt. Diese Rahmenbedingungen sind heute gegeben. Die Transformation zur klimaneutralen und digitalen Wirtschaft in Deutschland und Europa ist dringend. Die Häufung extremer Wetterlagen sowie die Berichte des IPCC zum Klimawandel zeigen dies eindrücklich, und der internationale Technologiewettbewerb fordert Europa bei der Digitalisierung heraus. Aus diesem Grund brauchen wir das volle Spektrum der Hebel, um die Transformation zu beschleunigen. Finanzmärkten kommt hier eine zentrale Rolle zu.
Deshalb finde ich es ermutigend, dass das Interesse am Vorantreiben der Europäischen Kapitalmarktunion erstarkt ist und die Beschäftigung wieder konkreter wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir 3 Punkte zentral:
1. In einem schwierigen geostrategischen Umfeld steigt der Druck auf Europa seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu stärken: Während Europa die jüngsten Schocks der Corona- und Energiekrise recht gut bewältigt hat und eine sanfte Landung in Reichweite zu sein scheint, bergen die weitere Entwicklung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine und der Ausgang der US-Wahlen neue Risiken. Eine Eskalation des Konflikts im Nahen Osten würde sich neben dem unermesslichen menschlichen Leid zudem unmittelbar auf die Energiepreise auswirken und könnte die sanfte Landung der Weltwirtschaft und Europas verhindern. Gleichzeitig gibt es langfristige Herausforderungen, wie die digitale und grüne Transformation, die die Mobilisierung großer Mengen an privaten Investitionen erfordert. Damit diese Investitionen in Europa getätigt werden können, sind die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmensumfelds sowie widerstandsfähige und integrierte europäische Märkte wichtiger denn je.
2. Das Vorantreiben der Kapitalmarktunion ist ein lohnenswerter und höchst relevanter Bestandteil zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Europas: Auch wenn es keine „low hanging fruits“ zum Vorantreiben der Kapitalmarktunion mehr gibt und erforderliche nächste Schritte wie eine einheitliche Kapitalmarktaufsicht, ein europäisches Unternehmensgesetzbuch (wie im Letta-Bericht vorgeschlagen) oder die Harmonisierung nationaler Vorschriften, einschließlich des Insolvenz- und Steuerrechts, starken politischen Willen auf nationaler Ebene erfordern, sind die Vorteile substantiell. Zwar ist die Finanzierung in Europa viel stärker bankbasiert, dennoch legt ein Vergleich mit den USA nahe, dass ein leichterer Kapitalmarktzugang für Unternehmen, insbesondere Start-ups in Europa erhebliche positive Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit haben würde: So ist der US-amerikanische Kapitalmarkt im Verhältnis zur Wirtschaftstätigkeit doppelt so groß wie der europäische (449 % gegenüber 233 % des BIP). Im Falle des Venture Capital-Marktes, der für die Markteinführung von Innovationen von zentraler Bedeutung ist, beträgt das Verhältnis der Marktgröße gemessen am BIP sogar 3 zu 1 (0,53 % des BIP in den USA gegenüber 0,18 % in Europa). Die Steigerung der Attraktivität des europäischen Venture Capital-Markt für internationale Investoren würde einer Abwanderung von Start-ups und Scale-ups ins außereuropäische Ausland entgegenwirken.
3. Um den vollen Nutzen der Kapitalmärkte für Europa zu erschließen, ist eine Mobilisierung von mehr privatem Kapital für markbasierte Finanzierungen nötig. Eine Möglichkeit ist, der Ausbau der kapitalgedeckten Altersversorgung. So könnte die Investorenbasis in Europa wirksam verbreitert werden. Gleichzeitig ist die Vermittlung von Finanzwissen eine notwendige Ergänzung, um den Europäern die Scheu vor kapitalmarktbasierten Investitionen zu nehmen. Bisher halten Europäische Haushalte ihre Finanzmittel nämlich größtenteils als Bankeinlagen und Bargeld. Nur rund ein Fünftel der europäischen Bevölkerung verfügt über eine gute finanzielle Bildung, wobei große Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten bestehen. Hier ist ein deutlicher Ausbau des Bildungsangebots für Finanzwissen ab Kindesalter erforderlich. Schließlich würde die Stärkung des Verbriefungsmarktes eine Brücke zwischen den Vorteilen einer hauptsächlich bankbasierten Finanzierungstradition wie in Europa und der Entwicklung tiefer, liquider und offener Kapitalmärkte wie in den USA bilden. Mit Verbriefungen können Risiken effizient unter den Marktteilnehmern verteilt werden, und gleichzeitig kann zusätzliches Kapital für die Kreditvergabe von Banken freigesetzt werden.
Ich bedanke mich herzlich für die Einladung zu dem inspirierenden Austausch beim Strategiegespräch der Atlantik-Brücke zum Thema „Zukunft der Kapitalmarktunion“. Aus dem Gespräch mit Armin von Falkenhayn (Bank of America), Livio Stracca (EZB), moderiert von Katja Schremmer (BNP Paribas) und den erhellenden Diskussionsbeiträgen der Teilnehmenden nehme ich viele Gedankenanstöße mit.