Fukuyama skizziert Spaltung der USA entlang von Identitäten
Francis Fukuyama, Autor des Buches „The End of History and the Last Man“, hat per Webinar erläutert, wie Identitätspolitiken moderne politische Diskurse geformt haben. Der Professor für Politologie der Stanford University und Olivier Nomellini Senior Fellow des dort ansässigen Freeman Spogli Institute for International Studies sprach zu Mitgliedern des American Council on Germany und der Atlantik-Brücke als Teil der Virtual German-American Conference. Christiane Hoffmann, Autorin im Hauptstadtbüro des Spiegel, moderierte die Diskussion.
https://vimeo.com/456845367
Zunächst hob Fukuyama die Relevanz von Identitätspolitik hervor. Der Autor des Buches „Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment“ ging auf die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und zur Entscheidung Großbritanniens für den Austritt aus der Europäischen Union 2016 ein. Populisten und Nationalisten bedrohten heute in mehreren Ländern der Welt liberale Demokratien. Während im 20. Jahrhundert soziale Spaltung um wirtschaftliche Fragen gekreist habe, sei diese ökonomische Spaltungsachse inzwischen durch eine Achse der Spaltung entlang von Identitäten ersetzt worden. Der Ursprung von Identitätspolitik gehe auf Progressive auf der linken Seite des politischen Spektrums zurück, wie etwa anhand der in den 1960er Jahren aufkommenden LGBT-Bewegung für Menschenrechte nachzuvollziehen ist. Progressiv zu sein, habe demnach im Anfangsstadium dieser gesellschaftlichen Entwicklung bedeutet, sich einer enger gefassten Gruppe zugehörig zu fühlen.
Eines der grundsätzlichen Argumente in seinem Buch „Identity“ habe sich beispielhaft in der Reaktion auf die Corona-Pandemie gezeigt, führte Fukuyama aus. Eine Maske zu tragen sei ein identitätspolitisches Thema geworden, und zwar in diesem Sinn der Interpretation: Trage man keine Maske, unterstützte man Präsident Trump – trage man dagegen eine Maske, lehne man Trump ab. Medizinische und auf das Verhalten im Alltag bezogene Angelegenheiten seien nahezu vollständig politisiert worden.
In Bezug auf die Proteste gegen strukturellen Rassismus und Polizeigewalt in den USA hielt Fukuyama fest, dass manche Amerikanerinnen und Amerikaner gedacht hätten, die rassistische Spaltung der US-Gesellschaft sei mit der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten 2008 überwunden. Dies sei offensichtlich nicht der Fall. Heute sei die Präsidentschaftskampagne von Donald Trump derart politisiert, dass er nach dem gewaltsamen Tod des Afro-Amerikaners George Floyd eine Gelegenheit dafür gesehen habe, die vereinzelt vorkommenden radikalen Proteste zu nutzen, um den Fokus der öffentlichen Debatten in den USA auf das Spannungsfeld von Recht und Ordnung zu lenken. Zur Frage, ob er sogar mit einem Bürgerkrieg in den Vereinigten Staaten rechnet, bemerkte Fukuyama, dass bereits heute bedrückende Formen von Gewalt zu sehen seien ebenso wie Ausschreitungen im linken und Einsätze von Milizen im rechten Lager. Menschen seien umgebracht worden.
„Fortschritt verläuft nicht linear. Es kommt zu gewaltigen Rückschlägen. Dennoch weist die gesamte Kurve in Richtung Demokratie.“
Mit Blick auf die US-Wahlen am 3. November 2020 und den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden äußerte sich der Politikwissenschaftler zu denkbaren Szenarien. Demzufolge stelle es für den früheren Vizepräsidenten das schlechteste Szenario dar, falls die Republikanische Partei weiter die Mehrheit im Senat stellt. Denn deren Senatoren werden den Trumpismus nicht aufgeben, wie Fukuyama sagte. Es nehme mehr Zeit in Anspruch, ein strategisches Problem anzuerkennen, als dies bei einer taktischen Herausforderung der Fall sei. Falls Biden es gelingt, die Regierungsgeschäfte im Weißen Haus zu übernehmen und die Demokratische Partei sowohl die Mehrheit im Senat gewinnt als auch weiter die Mehrheit im Repräsentantenhaus innehat, werde die Lage für ihn allerdings ebenfalls sehr schwierig. Schließlich würden in diesem Szenario die derzeitige Mehrheitsführerin des House of Representatives, Nancy Pelosi, und Senator Bernie Sanders den möglichen Präsidenten Biden enorm unter Druck setzen, um sozioökonomische Ergebnisse im Interesse des progressiven Flügels der Demokraten zu erzielen. Fukuyama bezeichnete es als Albtraum-Szenario, wenn Präsident Trump zunächst im popular vote in Führung liegt, dann jedoch durch Auszählung der per Briefwahl abgegebenen Stimmen eine Welle an demokratischen Voten Biden an die Spitze bringt. Dies würde zu Gerichtsverfahren und einem völligen Stillstand führen.
Bei einer Wiederwahl Präsident Trumps befürchte Fukuyama, dass Trump seine Bestätigung im Amt als Mandat für die USA ansehe, aus der NATO auszutreten, sagte er. Allein diese Vorstellung sei für die Vereinigten Staaten von Amerika und deren Partner in Europa erschreckend.
Was moderne politische Diskurse und den Umgang mit Fakten betrifft, so habe der Aufstieg des Internets die Hierarchie dessen verändert, wie Daten und Realität zu interpretieren seien. Dies habe dazu beigetragen, die Struktur der Basis zu schwächen, auf der eine Verständigung über Fakten stattfindet. Vertrauensverluste in Institutionen wie Medien, Gerichte und Parlamente seien eine Folge dieser Entwicklung. Es werde eine lange Zeit in Anspruch nehmen, diese Institutionen wieder aufzubauen. In Bezug auf sein 1992 veröffentlichtes Buch „The End of History and the Last Man“ sagte Francis Fukuyama: „Fortschritt verläuft nicht linear. Es kommt zu gewaltigen Rückschlägen. Dennoch weist die gesamte Kurve in Richtung Demokratie.“