Wirtschaft und Finanzen

„Geopolitik beginnt zu Hause“

„Geopolitik beginnt zu Hause“ Michael Hüther

Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft und stellvertretender Vorsitzender der Atlantik-Brücke, analysiert die geopolitischen Verschiebungen nach der Münchner Sicherheitskonferenz und fordert eine strategische Neuausrichtung Europas in einer sich wandelnden Weltordnung.

Die 61. Münchner Sicherheitskonferenz ist schon jetzt historisch.

Nach 75 Jahren wurde seitens der US-Regierungsvertreter die transatlantische Partnerschaft aufgekündigt. An die Stelle der Kooperation im nordatlantischen Bündnis tritt die Aufteilung der Welt in Interessensphären. Europa gehört für Trump offenkundig nicht mehr zum Raum gemeinsamer Interessen. Der dominante US-Blick nach China lässt Europa allein zurück und sucht laienhaft die Verständigung mit Russland.

Im Handumdrehen werden gemeinsame wertebasierte Traditionen aufgegeben und Prinzipien des staatlichen Miteinanders annulliert. Keine noch so gute, keine noch so akzeptierte Ordnung – ob völkerrechtlich oder verfassungsrechtlich gefasst – ist vor dem negativen und nicht beschränkten Willen einer autokratischen Macht sicher.

Dabei geht es – immer wieder umkämpft – um völkerrechtliche Grundsätze, die seit dem Westfälischen Frieden Orientierung gaben, und um transatlantische Werte, die das Projekt des Westens seit der amerikanischen und der französischen Revolution ausmachen.

Man sollte nicht übersehen, welchen Anteil die Europäer und nicht zuletzt die Deutschen an dieser Entwicklung haben. Henry Kissinger wies 1993 darauf hin, dass nach dem Fall der Mauer die transatlantische Partnerschaft drohe, formalistisch zu werden und mangels Inhalt Legitimation zu verlieren. Die Herausforderung sei „to affirm what actions we can take together and the purpose we can fulfill“. Wie oft haben wir uns der Verantwortung dafür entzogen? Wie oft haben wir stattdessen eine moralisch überhöhte Position beim Blick über den Atlantik eingenommen?

Doch bedeutsamer ist heute die Frage, warum überall im transatlantischen Westen autoritär-illiberale Kräfte an Bedeutung gewinnen und diese geopolitischen Veränderungen motivieren. Gemeinsam hat man die Globalisierung in den vergangenen drei Jahrzehnten erlebt und erfahren, dass die optimistischen Versprechen nicht so einfach und keineswegs ohne eigene Anstrengungen zu realisieren waren.

Das Globalisierungsparadoxon (Dani Rodrik) erfasst diese überfordernde Spannung zwischen demokratischer Legitimation, nationaler Selbstbestimmung und vertiefter globaler Arbeitsteilung. So konnte an die Stelle der positiven, aber naiven Erzählung der Optimisten wirksam die negative Abschottungsbotschaft der Illiberalen treten.

Die Attraktivität illiberal-autokratischen Denkens resultiert daraus, dass unter den Bedingungen offener Märkte, unbehinderter Kapitalmobilität sowie vielfältig mobilisierter Migration die Wohlfahrtsstaaten des Westens in eine strukturelle Überforderung gerieten. Politik scheint ineffektiv geworden zu sein, wenn es um die verlässliche Bereitstellung der elementaren Daseinsvorsorge geht. Und das, obwohl die Staaten nach dem Ende des Kalten Krieges durch ein extensives „cashing in of the peace dividend“ (MSC-Report 2024) in vorher ungekanntem Ausmaß fiskalisch entlastet wurden.

Wenn der Staat nicht mehr liefert, tritt die Gesellschaft als relevante Lebenswirklichkeit in den Hintergrund, und die enge wertebasierte Gemeinschaft entfaltet ihre Bindungswirkung. Dort treffen nationale Engführung und soziale Einhegung zusammen – Helmut Plessner lässt grüßen. Doch dort gibt es keine gestaltende Antwort auf die neuen geoökonomischen und geopolitischen Herausforderungen. Genau daran muss gearbeitet werden, wenn man die empfundene Krise der Repräsentation bei den negativ Aktivierten adressieren will. Geopolitik beginnt zu Hause.

Seit 2004 leitet Hüther das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Von 1995 bis 1999 war er Generalsekretär des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Zwischenzeitlich hat er im Privatsektor, bei der Deka-Bank, als Ökonom gearbeitet. Hüther ist stellvertretender Vorsitzender der Atlantik-Brücke. 

Dieser Text erschien zuerst bei SZ Dossier.

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