„Gigantischer exogener Schock für die Banken“
BaFin-Präsident Felix Hufeld sieht in der Corona-Krise die Risiken für die Stabilität der Finanzmärkte in Wellenbewegungen auf die Branche bis ins Jahr 2021 zukommen. Deutschlands Chefaufseher für Finanzdienstleister spricht im Kurzinterview der Atlantik-Brücke am 18. Juni 2020 über die Rettungspakete von Regierungen und Parlamenten in Europa, die Maßnahmen von Zentralbanken und Szenariorechnungen zur wirtschaftlichen Erholung.
Herr Hufeld, welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie bislang grundsätzlich auf die Finanzindustrie in Deutschland ausgeübt?
Wir sprechen über einen gigantischen exogenen Schock auf das gesamte Wirtschaftssystem – damit als Reflex auch auf die Finanzindustrie. Wir haben in den vergangenen drei Monaten auf der öffentlichen Seite einen sehr intensiven Aktivitätenpegel, eine hohe Geschwindigkeit und ein bemerkenswertes Maß an Koordination bei den drei wesentlichen Akteuren gesehen, die hier Dinge zu entscheiden haben. Das sind zum einen Regierungen und Parlamente, die enorm schnell und kompakt gewaltige Fiskal- und Unterstützungspakete geschnürt haben, wie wir es zuvor noch nicht gesehen haben.
Der zweite entscheidende Akteur sind die Zentralbanken, die gleichermaßen weitreichende Pakete und Maßnahmen beschlossen haben. Diese verfolgen primär das Ziel, Zugang zu Liquidität sicherzustellen. Dagegen fokussieren sich die Pakete der Regierung richtigerweise primär auf die Unternehmen der Realwirtschaft, das heißt: die Kunden der Banken.
Die dritte Gruppe von Akteuren sind Aufseher und Regulierer. Auch sie haben ihren Teil dazu beizutragen, um die im Regelwerk der Finanzindustrie angelegte Flexibilität zu ermöglichen.
Welche primären Ziele müssen Sie in Ihrer Aufsichtsfunktion für die verschiedenen Institute im deutschen Bankensystem derzeit verfolgen?
Das erste Ziel besteht darin, unseren Beitrag zu leisten, damit Banken ihrer Funktion nachkommen können, öffentliches, privates und eigenes Kapital an die Realwirtschaft weiterzuleiten. Unser zweites Ziel besteht darin, die Stabilität und Sicherheit des Systems zu gewährleisten. Und zwar im Sinne einer maximal erhöhten Resilienz gegenüber absehbar eintretenden und zukünftig stattfindenden Kreditausfällen.
Beide Ziele stehen gleichberechtigt nebeneinander und haben zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine unterschiedliche Gewichtung. Das erste Ziel hat uns in den vergangenen sechs bis acht Wochen primär auf Trab gehalten. Seit geraumer Zeit bestimmt das zweite Ziel unsere Agenda immer stärker.
Wie stellen Sie sicher, dass auch über die Pandemie hinaus möglichst viel Kapital im Finanzkreislauf verbleibt und zirkuliert?
Das ist im Kontext der Corona-Krise von überragender Wichtigkeit. Allein mit Blick auf die knapp 120 signifikanten Institutionen in der Euro-Zone, die durch den einheitlichen europäischen Bankenaufsichtsmechanismus (Single Supervisory Mechanism – SSM) unter der Federführung der Europäischen Zentralbank (EZB) beaufsichtigt werden, sprechen wir über circa 25 Milliarden Euro an ausschüttungsfähigem Kapital, das tunlichst in den Bilanzen der Banken verbleiben sollte. Abgesehen davon, dass dies das logische politische Äquivalent zu weitreichenden fiskalischen Hilfsmaßnahmen darstellt, die aus Steuergeldern finanziert werden müssen, ist es aus Sicht der Aufsicht Common Sense, dafür zu sorgen, dass möglichst viel Kapital im System gehalten wird. Vor allem solange man nicht mit hinreichender Sicherheit sagen kann, wie stark die Belastungen noch sein werden.
In Deutschland ist das gesamte Bankensystem in einer relativ stabilen Lage. Das gilt sowohl für die großen, systemrelevanten als auch für die kleineren und mittleren Banken. Im Aggregat stehen den Instituten etwa 480 Milliarden Euro an hartem Kernkapital zur Verfügung. Davon sind circa 136 Milliarden Euro echtes Überschusskapital, also nicht von der Aufsicht gefordertes Kapital. Das sind beachtliche Größenordnungen. Jedoch findet Aufsicht im echten Leben nicht im Aggregat statt, sondern im Hinblick auf jedes einzelne Institut. Man muss die schwächsten Banken unter dem Durchschnitt daher immer genau im Blick haben.
In Deutschland ist das gesamte Bankensystem in einer relativ stabilen Lage. Das gilt sowohl für die großen, systemrelevanten als auch für die kleineren und mittleren Banken. Im Aggregat stehen den Instituten etwa 480 Milliarden Euro an hartem Kernkapital zur Verfügung.
Mit welchem Verlauf einer wirtschaftlichen Erholung rechnen Sie?
Die konservativsten Prognosen stammen von der EZB, die einen Einbruch des Bruttoinlandsproduktes von 8 bis 12 Prozent für möglich hält. Die etwas älteren Prognosen des Internationalen Währungsfonds (International Monetary Fund – IWF), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Cooperation and Development – OECD) oder auch der Weltbank prognostizieren Einbrüche, die in einer Spannbreite zwischen 6 und 8 Prozent schwanken. Neben dem Aspekt, wie tief der Einbruch sein wird, lautet die entscheidende Frage: Wie schnell wird sich die Wirtschaft wieder erholen? Das zu prognostizieren, ist im Zweifel noch schwieriger.
Ich kenne niemanden, der derzeit seriöse Wahrscheinlichkeiten für diese Szenarien nennen könnte. Szenariorechnungen sind reine Wenn-dann-Annahmen. Prognosen kann man daraus noch nicht ableiten. Wir gehen im Moment davon aus, dass mildere Negative-Case-Szenarien vom Finanzsektor durchaus getragen werden können. Wenn ich heute dennoch eine Prognose abgeben müsste, dann diese: Ich halte eine systemische Krise im Finanzsektor für weniger wahrscheinlich. Aber ich rechne durchaus damit, dass die Krise Schleifspuren hinterlassen wird. Meine persönliche Theorie besagt, dass wir in Wellenbewegungen schlagende Kreditausfallrisiken erwarten müssen, und zwar nicht nur im dritten und vierten Quartal 2020, sondern in einer zweiten Welle im kommenden Jahr 2021.