Globalallianz oder Kontinentalallianz?
Die Debatten über Sinn und Zweck der NATO sind so alt wie das Verteidigungsbündnis selbst – in den Wiederholungen der transatlantischen Diskussionen spiegeln sich die Muster der Argumentationen bis heute.
Von Thomas Speckmann
75 ist sie nun – die gute alte NATO. Wie ist es ihr ergangen in den vergangenen Jahren? Was hat sie alles erleben müssen! So mancher im Westen wollte sie erst gar nicht geboren sehen. Im Osten ohnehin nicht. Nachdem sie dann dafür gesorgt hatte, dass der alte Kalte Krieg zumindest in Europa nicht zu einem heißen zwischen den Supermächten wurde, glaubten nicht wenige im Westen, dass sich damit auch ihr Sinn und Zweck erledigt hätte. Sogar für „hirntot“ wurde sie erklärt. Es folgten entsprechende Debatten, die bis heute anhalten. Dabei lassen sich gewisse Muster erkennen.
Wenig überraschend ist zunächst, dass die NATO immer dann nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird, zumindest von einer politischen Mehrheit in ihren Mitgliedstaaten, wenn sich zeigt, dass sie weiterhin für ihren ursprünglichen Auftrag – die kollektive Verteidigung des Bündnisgebiets – gebraucht wird. Dies ist spätestens seit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine erneut der Fall.
Darüber hinaus entfaltet sich allerdings ein bunter Strauß an Herausforderungen, Aufgaben und Zuständigkeiten, die in den Debatten über Sinn und Zweck der NATO der „Nordatlantischen Vertragsorganisation“ zugeordnet wurden und bis heute werden. Stellvertretend dafür stand nach dem Ende des alten Kalten Krieges die Diskussion der Frage, ob sich das Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei entwickeln sollte – oder besser nicht. Zu Letzterem riet lange vor dem Afghanistan-Desaster der Politologe Johannes Varwick. Anlässlich des 60. Gründungstages der NATO zog der damalige Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Europäische Integration und Internationale Organisationen an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Bilanz in einem rückblickend sehr weitsichtigen Buch (Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei? C. H. Beck Verlag, München 2008).
Varwick hielt bereits damals die neuen Sicherheitsbedrohungen für derart vielschichtig, dass ihm eine automatische Reaktion der NATO wie im Fall einer Verletzung der territorialen Integrität des Bündnisgebietes nicht denkbar erschien. Dies hatte schon damals weitreichende Folgen, wie täglich in Afghanistan verfolgt werden konnte: Zum einen erschien auch in Zukunft eine geschlossene Haltung aller Bündnispartner eher unwahrscheinlich. Auch die künftigen Operationen der NATO sollten daher von einem flexiblen und unterschiedlichen Engagement der Mitgliedstaaten geprägt sein.
Hätte es zum anderen jedoch eine Art Verpflichtung zur Intervention gegeben, wäre die NATO nach Varwicks Einschätzung nicht nur rein materiell völlig überfordert gewesen. Auch politisch – innen wie außen – hätte dies einen enormen Sprengsatz ergeben. Denn je schwächer ein von Interventionsplänen betroffenes Land sei, desto mehr werde es tendenziell auf das Nichteinmischungsgebot im Völkerrecht verweisen. Vor allem die Länder der südlichen Hemisphäre, die sich als potenzielle Objekte solcher Aktionen sehen würden, wehrten sich bereits damals gegen derartige aus ihrer Sicht neokolonialistische Absichten des Nordens.
Der Kosovo-Krieg verdeutlichte, dass es in demokratischen Staaten kaum möglich ist, öffentliche Unterstützung selbst für gut begründbare Kriege zu finden.
Doch auch in den NATO-Staaten selbst gab es bereits damals starke Widerstände gegen Auslandseinsätze der Streitkräfte. Der Kosovo-Krieg verdeutlichte, dass es in demokratischen Staaten kaum möglich ist, öffentliche Unterstützung selbst für gut begründbare Kriege zu finden. Fiel dennoch die Entscheidung zum Kampfeinsatz, so zeigte der Bombenkrieg gegen Serbien zusätzlich, dass eine heterogene Allianz wie die NATO strukturell zur Kriegführung wenn nicht untauglich, so doch zumindest nur eingeschränkt geeignet war. Eine Analyse, die für den Einsatz in Afghanistan wenig Gutes erwarten ließ.
Auch im Hinblick auf die damaligen amerikanischen Präsidentschaftswahlen erschien Varwicks Prognose für die zukünftigen transatlantischen Sicherheitsbeziehungen nicht unwahrscheinlich: Denn ganz gleich ob John McCain, Hillary Clinton oder Barack Obama das Rennen machen sollte, Europa und die Europäische Union würden mehr für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sein als jemals zuvor. Daher werde die europäische Politik die Voraussetzungen verbessern müssen, diese neue Rolle auch auszufüllen. Die wirklich schwierigen Debatten über die Zukunft der Integration wie auch der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik würden der EU aber erst noch bevorstehen. Die heutige Nachrichtenlage spiegelt diese Voraussagen eindrücklich.
Vier Jahre nach Varwick meldete sich Theo Sommer ebenfalls in Buchform zu Wort und forderte, das Bündnis müsse europäischer werden. Bereits zwei Jahre vor Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine erinnerte der ehemalige Chefredakteur und Herausgeber der „Zeit“ die NATO an ihr Kerngeschäft: die Verteidigung der Bündnispartner (Diese NATO hat ausgedient. Das Bündnis muss europäischer werden. Edition Körber-Stiftung, Hamburg 2012).
Ein politisches Forum für eine „offene und aufrichtige Diskussion“ zwischen den transatlantischen Partnern
Trotz aller Abgesänge auf die NATO in der damaligen Zeit sah Sommer eine Zukunft für das westliche Bündnis, wenn es zu einer Allianz werde, in der Europa mit Amerika auf Augenhöhe zusammenarbeite. Doch welche Gestalt konnte eine derartige Kooperation, die ebenfalls seit Jahren diesseits wie jenseits des Atlantiks angemahnt wurde, annehmen? Zunächst einmal sollte die NATO nach Sommers Empfehlung wieder ein politisches Forum werden, in dem „offene und aufrichtige Diskussion“ zwischen den transatlantischen Partnern möglich sei. Dabei müsse man heraus aus der routinemäßigen Beschäftigung mit sich selbst und wieder lernen, über den Brüsseler Tellerrand hinauszublicken. Denn dort traten bereits damals neu aufsteigende Mächte ins Rampenlicht der Weltbühne, was zu einem transatlantischen Katalysatoreffekt hätte führen können, indem Amerikaner und Europäer wieder klarer erkannt hätten, was sie aneinander hatten und bis heute haben.
Haben oder Nichthaben – auch das war und ist bis heute gerade mit Blick auf den Aufbau von „Smart Defence“, einer Verteidigungspolitik, die mit den vorhandenen Budgets klüger umgeht als bisher, die Schlüsselfrage der Bündniszusammenarbeit. Denn bereits vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise mit ihren katastrophalen Folgen für die nationalen Haushalte der meisten NATO-Mitglieder hatten die westlichen Streitkräfte in der Regel nicht mehr die Mittel zur Verfügung, um in allen Waffengattungen auf der Höhe der Zeit zu sein.
Haben oder Nichthaben – auch das war und ist bis heute gerade mit Blick auf den Aufbau von „Smart Defence“, einer Verteidigungspolitik, die mit den vorhandenen Budgets klüger umgeht als bisher, die Schlüsselfrage der Bündniszusammenarbeit.
Konnte bereits „Smart Defence“ nur funktionieren, wenn sich die Bündnispartner auf eine gemeinsame Rüstungspolitik verständigten, so galt und gilt dies weiterhin erst recht bei den Zielen der Sicherheitspolitik. Dabei war schon damals der kleinste gemeinsame Nenner die Verteidigung des Bündnisgebietes. Daher wollte auch Theo Sommer in der NATO keinen Weltgendarmen sehen und zitierte Madeleine Albright, die bereits 1996 als amerikanische Außenministerin darauf hinwies, dass das Bündnis eine Kontinentalallianz und keine Globalallianz sei.
75 ist sie nun – die gute alte NATO. Was hat sie sich nicht alles schon anhören müssen!
Der Autor ist Historiker und Politikwissenschaftler und hat Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Münster, Potsdam und der FU Berlin wahrgenommen.