„Hartnäckig hohe Kerninflation in den USA und der Eurozone“
Christian Nolting, Global Chief Investment Officer der Deutsche Bank AG, spricht im Kurzinterview über die Entwicklung der transatlantischen Teuerungsraten, Führungswechsel in Aktienmärkten und die grüne Transformation. Nolting ist seit mehr als 20 Jahren in unterschiedlichen Positionen bei der Deutschen Bank tätig. Nach Stationen in Singapur, London und New York kehrte er 2015 nach Frankfurt am Main zurück. Das Kurzinterview haben wir im Nachgang zum Frankfurt Luncheon mit Christian Nolting am 30. Juni 2023 geführt.
Herr Nolting, Sie haben während Ihres Vortrags die Einschätzung geäußert, dass die seit über einem Jahr anhaltend hohen Inflationsraten in westlichen Ländern erst 2025 wieder das von der Europäischen Zentralbank angestrebte Ziel von 2 Prozent erreichen werden. Wie gelangen Sie zu diesem Ausblick?
Angesichts der Rekordbeschäftigung und der starken Lohndynamik in der Eurozone scheint eine Rückkehr zur Preisstabilität im Sinne der EZB (mit einer Inflation von etwa 2 %) im Jahr 2024 unwahrscheinlich. Wir erwarten, dass die Inflation im nächsten Jahr durchschnittlich 2,5 % betragen wird. Steigende Unternehmensgewinne, die durch Preisanhebungen gestützt werden, um die Margen zu stabilisieren, können den Anstieg der Inflation in Europa in den letzten zwei Jahren lediglich teilweise erklären. Das Lohnwachstum und der dadurch bedingte Kostendruck werden die Kerninflationskomponenten noch länger auf hohem Niveau halten. Innerhalb der Eurozone bleibt unsere Inflationsprognose für 2023 bei 5,7 %.
In den USA erwarten wir eine Inflationsrate von 4,3 % in diesem Jahr. In der vergangenen FOMC-Sitzung, welche am 13. und 14. Juni 2023 stattfand, sahen die Entscheidungsträger Spielraum, eine Juni-Zinserhöhung ausfallen zu lassen. Eine kurze Pause nach 10 aufeinanderfolgenden Zinserhöhungen gibt dem Ausschuss Zeit, die Auswirkungen der Erhöhungen zu bewerten. Die Ratsmitglieder sehen weitere Zinsanhebungen, allerdings in geringerem Tempo als bisher, als wahrscheinlich. Der Leitzins in den USA bleibt zunächst bei 5,25%.
Abschließend lässt sich sagen, dass die Widerstandsfähigkeit und die hartnäckig hohe Kerninflation in den USA und der Eurozone hauptsächlich auf angespannte Arbeitsmärkte, insbesondere im Dienstleistungssektor, zurückgeführt werden können, sowie auf wohnungsbezogene Ausgaben und Verbraucherausgaben.
Die führenden Aktienindizes haben sich während des turbulenten zweiten Quartals bemerkenswert gut gehalten. Einige Indizes erreichten sogar neue Mehrjahres- oder Allzeithochs. Unterstützt wurde der Anstieg durch solide Gewinnentwicklungen, sinkende Volatilitäten und eine Kombination von Makrodaten, die das Vertrauen der Anleger in ein weiches Landungsszenario stärkten. Wir gehen davon aus, dass die Aktienmärkte weiterhin von Führungswechseln geprägt sein werden, da die Verunsicherung rund um die Geopolitik und die Konjunkturentwicklung unter den Marktteilnehmern noch vorhanden ist und die Politik der Zentralbanken weiterhin datenabhängig bleibt. Der US-Leitindex S&P 500 könnte in der zweiten Jahreshälfte höheren Schwankungen ausgesetzt sein, da die Performance im bisherigen Jahresverlauf fast ausschließlich auf wenige Mega-Cap-Technologiewerte zurückzuführen ist, welche von dem zunehmenden Interesse der Anleger an Aktien mit hoher Rentabilität und nicht zuletzt von der Euphorie über die Aussichten der künstlichen Intelligenz (KI) profitierten.
Der US-Aktienmarkt insgesamt wird inzwischen mit einem erhöhten Bewertungsaufschlag im Vergleich zu Europa gehandelt. Nach der jüngsten Rallye impliziert unser angehobenes Kursziel von 4.200 Punkten kein weiteres Aufwärtspotenzial für den Gesamtindex – auf Sektorebene erscheinen ausgewählte Wachstumstitel langfristig dennoch interessant. Vorübergehende Kursrücksetzer können hier interessante Einstiegsgelegenheiten bieten. Derzeit bevorzugen wir eine „Hantelstrategie“ bestehend aus europäischen defensiven Titeln bei Industrie und Banken und US-Wachstumstiteln. Obwohl wir davon ausgehen, dass die Margen in Europa aufgrund des langsameren Wachstums und der schwächeren Nachfrage sinken werden, glauben wir, dass sie auf einem hohen Niveau bleiben werden, da die Unternehmen weiter über Spielraum für Preisanhebungen verfügen, wenn auch in geringerem Maße. Die Gewinnerwartungen der Analysten sehen für beide Regionen in den kommenden Jahren solides Wachstumspotenzial.
Die globale Wirtschaft steht angesichts der Klimakrise vor einschneidenden Transformationsprozessen. Welche Sektoren der Wirtschaft könnten Ihrer Ansicht nach von der grünen Transformation am stärksten profitieren?
Unserer Ansicht nach werden vor allem die Unternehmen aus den Bereichen Energie, Investitionsgüter und Versorgungsunternehmen eine entscheidende Rolle bei der grünen Transformation und somit einem Übergang zu einer kohlenstoffärmeren Welt spielen können. Die kohlenstofffreie Stromerzeugung wird weiterhin im Mittelpunkt der Energiewende stehen. Zur Dekarbonisierung der Energieversorgung sind enorme Investitionen in Windkraft, Solarenergie, Energiespeicherung und Übertragungsnetze erforderlich. Folglich erwarten wir, dass diese Branchen in den nächsten Jahren ein erhebliches Wachstum erfahren werden, teilweise auf Kosten von Branchen wie Öl und Gas, da wir zumindest schrittweise aus fossilen Brennstoffen aussteigen. In den sogenannten Übergangsindustrien können die Unternehmen, die den Übergang besser bewältigen (z. B. durch eine geringere Kohlenstoffintensität, eine bessere Kontrolle der Methanleckagen, eine höhere Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien usw.), mittelfristig bessere Unternehmensergebnisse erzielen als ihre Branchenkollegen und einen langfristigen Beitrag zu unserem künftigen Wohlstand leisten.
Allerdings muss auch damit gerechnet werden, dass die Ergebnisse von Energieunternehmen durch Strukturanpassungen belastet werden, wobei Abwärtsrisiken vor allem aus dem derzeitigen Bestand an unerwünschten fossilen Kraftwerken resultieren.
Letztendlich müssen die Investitionen in die Energiewende jedoch in einem größeren Zusammenhang gesehen werden – es geht nicht nur um die Frage, wie wir Energie auf eine andere Art und Weise erzeugen, sondern auch, wie wir sie verteilen, speichern und verbrauchen. Die Energiewende wird eine Herausforderung sein, und die Politik muss vielschichtig vorgehen und Kompromisse akzeptieren. Andererseits bietet die Energiewende auch viele Chancen, beispielsweise durch Dezentralisierung und die mögliche Stärkung der Rolle des globalen Südens.