Innovation in Boston, politische Innenansichten in D.C.
Dort, wo der Politiker und Unabhängigkeitskämpfer Samuel Adams 1773 zu einer Zusammenkunft aufrief, aus der später die Boston Tea Party entstand, begann unsere diesjährige Mitgliederreise: bei Faneuil Hall im Herzen Bostons. Boston ist nicht nur eine geschichtsträchtige Stadt, die eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der amerikanischen Nation spielte, sondern auch eine Stadt der Zukunft. Das erfuhren die Teilnehmer der diesjährigen Atlantik-Brücke Delegationsreise bei ihrem Besuch im Zentrum Neuenglands.
Eine Hochburg der Life Sciences
Mit seinen vielen Universitäten – neben Harvard und dem Massachusetts Institute of Technology gibt es in der Metropolregion 50 weitere höhere Bildungseinrichtungen – ist Boston ein Wissenschaftsstandort von internationaler Bedeutung. Mit ihrer hohen Dichte an Universitäten und medizinischer Forschung, einer Konzentration von Risikokapitalgebern und vielen hochqualifizierten Beschäftigten ist die Stadt in den letzten Jahren außerdem zu einer Hochburg von Unternehmen im Bereich der Life Sciences geworden. Im Großraum Boston gibt es heute rund 730 Firmen, die sich mit digitalen Gesundheitsdienstleistungen, Neuentwicklungen im Bereich Diagnose und Therapie sowie mit medizinischen Geräten und Arzneimitteln beschäftigen. Einen ersten Überblick bekam die Delegation im Gespräch mit Mark Sullivan und seinen Kollegen vom Massachusetts Office of International Trade & Investment.
Christoph Lengauer, Chief Scientific Officer bei Third Rock Ventures, berichtete der Delegation von den Hürden, die es bei Investitionen in neue Medikamente und Therapien zu überwinden gilt. Die Entwicklung eines neuen Medikaments, so der gelernte Humangenetiker und Molekularbiologe, dauere im Schnitt zehn bis 15 Jahre und koste 1,3 Milliarden Dollar. Nur 1 Prozent aller entwickelten Medikamente werde zu klinischen Studien zugelassen, davon komme wiederum nur 1 Prozent auf den Markt. Sein Unternehmen investiert nur in Firmen, an deren Aufbau und Entwicklung es selbst beteiligt ist. Bei einem Besuch des German Accelerator Life Sciences, der deutschen Start-Ups im Bereich medizinischer Innovation helfen soll, sich auf dem amerikanischen Markt zu etablieren, erläuterten die Investoren und Mentoren Anula Jayasuriya und Charlie Cameron, dass die deutschen Firmen oft sehr gute Forschungsarbeit vorweisen könnten, aber ihre Geschäftsstrategie verbessern müssten. Der Accelerator wurde auf Initiative des Atlantik-Brücke-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in seiner damaligen Rolle als Bundeswirtschaftsminister ins Leben gerufen und wird vom Bundeswirtschaftsministerium unterstützt.
Die Verteidigung der liberalen Weltordnung
Nicht nur wirtschaftspolitische Themen beschäftigten die Delegation, auch Außen- und Sicherheitspolitik standen auf der Agenda: In der Harvard Kennedy School traf die Delegation auf die ehemalige Assistant Secretary of State for European and Eurasian Affairs, Victoria Nuland, den französischen Botschafter in den USA, Philippe Étienne und den ehemaligen Botschafter der USA bei den Vereinten Nationen, Professor Nicholas Burns. Victoria Nuland betonte im Gespräch mit der Delegation, dass die Verteidigung der liberalen Weltordnung für die transatlantischen Partner an erster Stelle stehen müsse. Die gemeinsamen Interessen und die gemeinsamen Werte ließen sich nicht voneinander trennen, so die ehemalige Diplomatin. Professor Nicholas Burns erinnerte daran, wie wichtig ein starkes Deutschland für Europa, aber auch für die transatlantischen Bindungen sei. Daran müsse sich Deutschland im Zuge der Debatte um die Erhöhung des deutschen Beitrags zur NATO erinnern.
Bei weiteren Gesprächen an der Kennedy School bekam die Delegation von Cathryn Clüver, Leiterin des Belfer-Center for Science and International Affairs an der Kennedy School und Alumna des Atlantik-Brücke Young Leaders-Programms, einen Einblick in die Arbeit des Centers und das Deutschlandbild in den USA. Brian Friedberg, Senior Researcher am Center on Media, Politics and Public Policy in Harvard, stellte seine Forschungsergebnisse zu Desinformationskampagnen und „fake news“ in der politischen Kommunikation vor.
Am Center for European Studies in Harvard sprach Torben Iversen über den Zusammenhang von Demokratie, kapitalistischer Wirtschaftsordnung und Wohlstand. Wachsende ökonomische Ungleichheit und populistische Strömungen hatten Kritiker auf den Plan gerufen, die zweifelten, ob sich Kapitalismus und Demokratie vereinbaren lassen. Iversen argumentiert in seiner Forschung, dass fortgeschrittene, kapitalistisch wirtschaftende Demokratien langfristig großen Wohlstand und relative Einkommensgleichheit schaffen. Anstelle einer grundlegenden Systemkritik empfahl der Ökonom Reformen als Antwort auf gesellschaftliche Unzufriedenheit. Der deutsche Politikwissenschaftler Karl Kaiser, der seit Jahren in Harvard lehrt und auch der Atlantik-Brücke eng verbunden ist, berichtete über die Vorwahlen der Demokraten und gab einen Ausblick auf die Präsidentschaftswahl 2020.
Am MIT traf die Delegation den Informatiker Alex Pentland, der unter anderem dazu forscht, wie sich Gesellschaften auf Grundlage von Datenauswertungen von menschlichem Verhalten besser organisieren können – und der Vorschläge erarbeitet, wie Menschen die Hoheit über ihre eigenen Daten behalten können. Unter anderem spricht er sich für Kooperativen aus, in denen selbstorganisiert große Datenmengen als Hebel gegen Übergriffe von Konzernen und Regierungen verwaltet und genutzt werden können.
Gegenwart und Zukunft der transatlantischen Interessen
Nach den Gesprächen in Boston und Cambridge reiste die Delegation nach Washington, D.C. Der dortige politische Betrieb war insbesondere von den beginnenden Ermittlungen eines möglichen Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsident Trump sowie vom Vorwahlkampf der Demokraten geprägt. Doch auch transatlantische Themen – der deutsche Beitrag zum NATO-Haushalt, Strafzölle, Energieversorgung, die zunehmende Beliebtheit populistischer Versprechen auf beiden Seiten des Atlantiks – kamen bei den Treffen in der Hauptstadt zur Sprache.
Bei einem Gespräch mit Botschafterin Emily Haber in ihrer Residenz legte die Diplomatin ihre Sicht auf den derzeitigen Stand des transatlantischen Verhältnisses dar. Sie betonte, wie wichtig die Vertiefung der Beziehungen nach wie vor ist und sprach sich dafür aus, nicht nur auf die historischen Dimensionen des transatlantischen Verhältnisses zu verweisen, sondern auch Gegenwart und Zukunft der gemeinsamen Interessen zu reflektieren.
Innenpolitische Gräben
Reince Priebus, ehemaliger Stabschef von Präsident Trump und ehemaliger Vorsitzender des Republican National Committee, gab einen Einblick in seine Zeit im Weißen Haus. Er sprach außerdem über die bevorstehende Präsidentschaftswahl und die politische Stimmung im Land. Bei Atlantik-Brücke-Vorstandsmitglied Michael Werz war der CNN-Korrespondent Jeff Zeleny zu Gast, der über seine Sicht auf die aktuellen innenpolitischen Entwicklungen sprach und auch das oft angespannte Verhältnis des US-Präsidenten zu den Medien thematisierte.
Mit den drei Abgeordneten Susan Brooks (R-IN), Ted Deutch (D-FL) und John Garamendi (D-CA) sprach die Delegation unter anderem über die politischen Gräben in den USA und darüber, wie dies die Arbeit im Kongress beeinträchtigt. Bei allen Schwierigkeiten sei das Verhältnis nach wie vor kollegial, und es gäbe immer wieder Gelegenheit zur produktiven Kooperation, bestätigten die drei Politiker.
Um politische Gräben ging es auch bei der Brookings Institution, wo die Delegation auf Thomas Wright, Constanze Stelzenmüller, Amanda Sloat, Célia Belin und James Kirchick traf. Angesichts der zunehmenden politischen Polarisierung in den USA wurde in der Diskussion die Frage aufgeworfen, ob bestimmte politische Meinungsäußerungen zensiert werden sollten oder ob es gerade diese Zensur sei, die zu einer immer größeren Radikalisierung führe.
Beim Center for American Progresss ging es im Gespräch mit Präsidentin Neera Tanden um die Ziele des progressiven Think Tanks und um aktuelle politische Herausforderungen. John Halpin gab einen Einblick in die mannigfaltigen strategischen Abwägungen des amerikanischen Wahlkampfs. Anhand demografischer Studien legte er dar, welche Bevölkerungsgruppen in welchen Bundesstaaten bei der Wahl 2020 besonderes Gewicht haben werden, wie sich die nationale öffentliche Meinung zu regionalen Besonderheiten verhält, und mit welchen Themen die Parteien ihre Basis mobilisieren können.
Um Energie ging es bei einem Termin mit Repräsentanten des Center for Liquefied Natural Gas und bei einem Abendessen mit John Dashwood und Gerry Borghesi von Exxon Mobil, die die Klimaschutz-Bestrebungen ihres Unternehmens erläuterten.
Great Power Competition
Verteidigungspolitische Gespräche führte die Delegation im Pentagon mit Daniel Green, Deputy Assistant Secretary of Defense for Strategy and Force Development sowie Michael C. Ryan, Deputy Assisant Secretary of Defense for Europe and NATO, und im National War College. Am College ging es unter anderem um das Thema „Great Power Competition“. Der stellvertretende Vorsitzende der Atlantik-Brücke, Michael Hüther, gab in einem Vortrag vor Fakultät und Studenten einen Einblick in die verteidigungspolitischen Herausforderungen an Deutschland und Europa. In einer Podiumsdiskussion mit den Staatssekretären Stephan Mayer und Christian Lange wurde das Thema vertieft.
Im State Department sprach Shawn Crowley, Director of Western Europe, über die Beziehungen zwischen Europa und den USA. Neben den bereits erwähnten Fragen des Verteidigungshaushalts ging es hier unter anderem auch um das Verhältnis beider Seiten zu China, aber auch um gemeinsame außenpolitische Erfolge im Umgang mit Nordkorea und Venezuela.
Mit vielen neuen Eindrücken und Ideen für die Vertiefung des transatlantischen Verhältnisses machte sich die Delegation der Atlantik-Brücke nach einer knappen Woche wieder auf den Rückweg nach Deutschland.
Für die Unterstützung bei dieser Reise danken wir unseren Mitgliedern, Young Leaders-Alumni, Freunden und Partnern. Unser besonderer Dank gilt Cathryn Clüver-Ashbrook, Gernot Kalkoffen, David Knower, Bodo Liesenfeld, Cornelius Pieper und Michael Werz.