Von Geyr: „Verlässlichkeit in der NATO ist ein hoher Wert“
Interview: Robin Fehrenbach
Teil I unserer Serie: In der Debatte um das 2-Prozent-Ziel der NATO legt sich Géza Andreas von Geyr fest: Dass Deutschlands Ausgaben für Sicherheitspolitik stetig wachsen, ist strategisch geboten. Im Interview mit der Atlantik-Brücke plädiert der Abteilungsleiter Politik im Bundesministerium der Verteidigung zudem für einen Aktivitätsindex innerhalb der Allianz. Nur damit lasse sich nachvollziehen, wie stark sich die einzelnen NATO-Mitglieder im Bündnis nicht nur militärisch engagieren.
Herr Dr. von Geyr, der NATO-Gipfel von Wales hat 2014 beschlossen, dass alle Mitgliedstaaten ihren jeweiligen nationalen Verteidigungsetat auf zwei Prozent des BIP aufstocken oder zumindest auf diesem Niveau halten sollen. Die Bundesrepublik steht derzeit bei 1,26 Prozent. Lässt sich abschätzen, wann Deutschland die vereinbarte Beitragshöhe leisten wird?
Es gab bereits einige Jahre vor 2014, und zwar zunächst 2002 und dann 2006, in der NATO Beschlüsse und Konsense in die gleiche Richtung. 2014 ist diese Frage dann sehr prominent aufgekommen. Der Beschluss des Gipfels wurde vorbereitet durch das Bundesministerium der Verteidigung und das Auswärtige Amt und zum Schluss getragen bis auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs. Die Formulierung lautet: ,We aim to‘. Es handelt sich also um eine politische Selbstverpflichtung aller Mitglieder, die jedes Land für sich umsetzen muss. Wir haben jährliche Haushaltsbeschlüsse, andere Länder sind anders strukturiert. Aber dieses ,We aim to‘ ist der Konsens der 28, sich gegenseitig in die Augen geschaut und dabei eine starke politische Selbstbindung abgegeben zu haben. ,Alle 28‘ unterstreiche ich deswegen, weil es auch eine Frage gegenseitigen Vertrauens ist und der Verlässlichkeit.
Dies ist dann nochmals beim Gipfel in Warschau 2016 bekräftigt worden. Und 2017, das darf man nicht vergessen, hat ja auch ein Gipfel stattgefunden, der zwar als Sondertreffen keinen publizierten Gipfelbeschluss nach sich gezogen hat. Aber wenn Sie sich die Pressekonferenz des Generalsekretärs der NATO ansehen, werden Sie darin eine Passage finden, dass auch bei diesem Treffen, an dem auch die Außen- und Verteidigungsminister teilgenommen haben, der Geist dieser 2-Prozent-Erklärung noch einmal bestätigt worden ist.
2014 waren Präsident Obama und seine Administration Treiber dieses Themas, aber bei weitem nicht die einzigen! 2017 ist es Präsident Trump. Wir haben also zwei politisch unterschiedliche amerikanische Regierungen, die in diesem Punkt Kontinuität zeigen.
Wann kann Deutschland dieses Ziel erreichen?
Das ist die Frage nach der innerstaatlichen Umsetzung, der sich alle, nach dem Beitritt Montenegros nunmehr 29, stellen und jeder muss dem eigenen Parlament und den eigenen Steuerzahlern gegenüber begründen, warum es Sinn ergibt, auf die zwei Prozent zu kommen. Da genügt das Argument der Partnerschaftlichkeit alleine nicht. Erklären muss es sich vor allem aus den sicherheitspolitischen Perspektiven, der gemeinsamen Verteidigungsplanung der NATO und der nationalen Streitkräfteplanung. Diese muss finanziell vorausschauend und verlässlich unterlegt werden. Wir haben im Weißbuch 2016 die Notwendigkeit von Trendwenden für die Bundeswehr strategisch begründet und angelegt, was das Personal, Rüstungsmaßnahmen und eben auch den Haushalt anbelangt. Der Personalbestand wächst nun erstmals seit langem wieder. Im Bereich Rüstung zeigt der Pfeil in eine Richtung, die mehr Transparenz, das Auffüllen von Lücken und eine Modernisierung im breitesten Sinne umfasst, etwa in der Cyberfähigkeit oder bei der Nutzung von Zukunftstechnologien. Was die Eckwerte des Bundeshaushalts anbelangt, haben wir ebenfalls Festlegungen erreicht, die das Anwachsen verstetigen. Wir werden sehen, wie der nächste Bundestag mit diesen Fragen umgeht. Angelegt ist jedenfalls ein aufwachsender Haushalt in sinnvollen Stufen.
Wir haben im Weißbuch 2016 die Notwendigkeit von Trendwenden für die Bundeswehr strategisch begründet.Dr. Géza Andreas von Geyr
Ich gehe davon aus, dass auch die neue Bundesregierung Verlässlichkeit in der Allianz als hohen Wert betrachtet und konsequent bleibt. 2014 hat man ,innerhalb einer Dekade‘ gesagt. Jetzt geht es um die richtigen Schritte. Sie müssen ambitioniert, machbar und begründbar sein.
Wofür werden im Einzelnen die Mittel im deutschen Verteidigungshaushalt eingesetzt?
Die Mittel betreffen den Personalbestand, Fragen der Ausrüstung und des Betriebs, aber auch Einsätze. Das sind die großen Komplexe, vieles ist langfristig anzulegen. Es geht auch um Investitionen in Forschung und Entwicklung. Der Haushalt ist im Grunde der Nachweis unserer Verantwortung, gemeinsam mit unseren Partnern und Verbündeten für unsere Sicherheit zu sorgen – und das in Zeiten einer fordernden äußeren Sicherheitslage.
Die Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen, betont regelmäßig, dass dieser Etat wesentlich mehr als nur Rüstungsausgaben umfasst. Zudem schlägt sie ergänzend einen Aktivitätsindex vor, der auch die Beteiligung an NATO-Einsätzen beinhalten soll. Wo steht diese Diskussion über den Beitrag zum gesamten Gelingen der NATO im transatlantischen Sicherheitsbündnis derzeit?
Wichtig ist, dass die Diskussion zum Aktivitätsindex nicht das 2-Prozent-Ziel in Frage stellen soll, sondern dieses sinnvoll ergänzen möchte. Die Grundfrage ist die folgende: Die NATO muss legitimerweise nachvollziehen, wer die Planungsziele, also die Aufgabenpakete, die sich die Mitglieder je nach Größe und Wirtschaftskraft gegenseitig zuweisen, in welchem Maß erfüllt. Dafür gibt das 2-Prozent-Ziel alleine keine Antwort. Denn kaum ein NATO-Staat wird seine Verteidigungsausgaben komplett in die NATO einbringen. Wir, Deutschland, stellen sicher einen erheblichen Teil unserer Militärkraft der Allianz zur Verfügung. Aber wir sind auch engagiert in Missionen der EU wie etwa in Mali oder Somalia und unterstützen Missionen der Vereinten Nationen wie im Südsudan oder vor den Küsten des Libanons. Und wir investieren auch gezielt in die Ertüchtigung von Partnern in fragilen Regionen, beispielsweise Jordanien, damit sie widerstandsfähig werden gegen Gefahren wie den Terror des IS.
Kaum ein NATO-Staat wird seine Verteidigungsausgaben komplett in die NATO einbringen.Dr. Géza Andreas von Geyr
Wir geben also nicht alles von unseren Verteidigungsausgaben direkt für die NATO aus. Und diese Palette lässt sich für jedes Land anders auffächern: Die Vereinigten Staaten sind auch sehr engagiert auf der pazifischen Seite ihres Kontinents. Da geht es nicht um die NATO. Die Franzosen sind in Westafrika im Kampf gegen den Terrorismus mit ihrer Mission Barkhane, die keinen Bezug zur NATO hat. Also: Von den Verteidigungsausgaben kommt bei niemandem alles direkt der NATO zugute. Die Allianz muss aber wissen, wer sich wie stark in ihr engagiert.
Deshalb brauchen wir geeignete Indikatoren. Ein klares Bild ist nötig zu: Erstens: Wie intensiv ist die Teilnahme von Mitgliedsländern an NATO-Missionen wie etwa in Afghanistan und im Kosovo? Zweitens: Wie intensiv ist die Beteiligung an den Initiativen, die seit 2014 in Reaktion auf die Machtprojektion des Kremls von der Allianz beschlossen worden sind? Das umfasst die neue schnelle Speerspitze: Wer macht mit? Oder die Präsenzen in den baltischen Staaten und in Polen, etwa in der ‚Enhanced Forward Presence‘: Wer ist beteiligt? Wer bindet Verbände in den ‚Larger Formations‘, die wir der neuen schnellen Speerspitze nachwachsen lassen? Und drittens, was bereits gemessen wird: Wer erfüllt inwieweit die Fähigkeitspakete, die jedes Land nach seinen Kräften schultern muss, um gemeinsam die verabredete Verteidigungsfähigkeit zu erreichen? Erst diese drei Indikatoren zusammen geben ein klares Bild, wer tatsächlich was für die NATO tut. Sie sind die logische Konsequenz und beschreiben Sinn und Zweck der 2-Prozent-Vereinbarung. Wir werden sehen, ob und wie die NATO-Partner alle bereit sind, hier Transparenz zu schaffen.
Rechnen Sie mit zunehmenden parlamentarischen Verteilungskämpfen im Bundestag hinsichtlich des deutschen Beitrags?
Die Debatten über den Verteidigungshaushalt der vergangenen zwei Jahre haben zu dem Ergebnis geführt, dass ein Anstieg sinnvoll, nötig und begründet ist. Und dass unsere Verbündeten von uns erwarten, dass wir – wie sie – einen vergleichbaren Teil unserer Wirtschaftskraft für die gemeinsame Verteidigung und Sicherheit zur Verfügung stellen, ist evident. Und: Gegenseitige Verlässlichkeit in der Allianz ist Kern unserer sicherheitspolitischen Interessen.
Deshalb sollte Sicherheit nicht künstlich gegen andere Politikbereiche aufgewogen werden. Unsere offene Gesellschaft mit ihrer Freiheit und ihrem Wohlstand ist angreifbar und braucht Schutz. Sicherheit ist gewiss nicht alles. Aber ohne Sicherheit im Inneren und eben auch im Äußeren wäre alles andere schwierig.
Welche Funktion sollte Deutschland sowohl in der europäischen Einbettung als auch in der transatlantischen Partnerschaft nach Auffassung der Bundesregierung in der NATO ausüben?
Aus guten Gründen sollten wir uns strategisch so ausrichten, dass wir transatlantisch bleiben und europäischer werden. Beides ergänzt sich. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die NATO das stärkste Militärbündnis der Welt bleibt und damit auch Garant für die Sicherheit auf unserem Kontinent. Gleichzeitig ist es klar, dass wir Europäer selbst besser für unsere eigene Sicherheit sorgen müssen. Die demografischen Entwicklungen eines schrumpfenden Europas und die geopolitischen Verschiebungen mit der steigenden Relevanz Asiens und Afrikas sprechen unbedingt dafür. Und für die Vereinigten Staaten ist in den großen Linien Europa keine Sorge mehr, sondern ein möglicher Partner, um gemeinsam den großen Sicherheitsherausforderungen zu begegnen, die außerhalb unseres Kontinents liegen. Wollen wir Europäer also in Zukunft unsere sicherheitspolitischen Interessen wahren, müssen wir den politischen Willen aufbringen, relevanter zu werden. Und wir müssen die politische Kraft aufbringen, diese Relevanz aufzubauen. Das Momentum dafür ist jetzt da und zwar sowohl in der NATO, wie in der EU.
Realität ist, dass in der Allianz die Amerikaner immer noch einen Großteil der Verteidigungslasten tragen. Wir brauchen innerhalb der NATO mehr Europa. Daran arbeiten wir sehr stark, unter anderem mit dem ‚Framework Nations‘-Konzept, mit dem wir in unterschiedlichen Initiativen als Europäer enger zusammenfinden. Deutschland nimmt dabei eine zentrale Rolle ein.
Das Ziel ist eine Europäische Verteidigungsunion, in der wir uns besser organisieren, zielgerichteter planen, intelligenter investieren und schneller handeln können.Dr. Géza Andreas von Geyr
Zum anderen wollen und müssen wir als Europäische Union unsere Verteidigungsfähigkeit optimieren. Daran arbeiten wir derzeit mit Hochdruck mit Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden und anderen. Das Ziel ist eine Europäische Verteidigungsunion, in der wir uns besser organisieren, zielgerichteter planen, intelligenter investieren und schneller handeln können. Hier ist im vergangenen Jahr vieles auf den Weg gebracht worden. Die wichtigsten Vorhaben sind der Europäische Verteidigungsfonds und die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, die ‚PESCO‘. Diese hat das Zeug zu einem richtig bedeutenden Schritt zu werden. Denn erstmals wird es in der EU auch militärisch einen hohen Anspruch an gegenseitiger Verlässlichkeit derer, die mitmachen, bringen. Also: Insgesamt brauchen wir beides: mehr Europa in der Allianz und eine handlungsfähigere EU. Und beides kommt dem gemeinsamen Transatlantischen zugute.
Dringt die Bundesregierung damit bei US-Präsident Donald Trump durch?
Amerikanische Sicherheitspolitik findet im Weißen Haus, aber auch in den dortigen Ministerien statt, in den Nachrichtendiensten und auch im Kongress. Ich denke, unser Ansatz wird nicht nur akzeptiert, sondern durchaus unterstützt, da unsere Bestrebungen die NATO objektiv nicht in Frage stellen, sondern sie perspektivisch stärken. Die Voraussetzung ist: Artikel 5 – die kollektive Verteidigung im Bündnis – bleibt ganz klar NATO-Sache. Das gilt und das heißt auch, dass der sehr filigrane Planungsprozess der NATO in seiner Integrität gewahrt wird. Auf dieser Basis wissen die Amerikaner, woran sie sind und wie sie dieses Mehr an europäischem Miteinander einzuordnen haben.
Es ist im vergangenen Jahr viel europäische Überzeugungsarbeit geleistet worden und auch viel amerikanisches Verständnis entgegengebracht worden.
Präsident Trump fordert wie jeder amerikanische Regierungschef seit Bestehen der NATO vor ihm eine faire Lastenteilung zwischen den USA, Kanada und Europa im Gefüge dieses so zentralen Vertrages für die Sicherheitsarchitektur des Westens. Halten Sie eine komplett erfüllte faire Lastenteilung zwischen sämtlichen NATO-Mitgliedern für realistisch?
Die Frage der Lastenteilung in der gesamten atlantischen Sicherheitsarchitektur reicht weit über die NATO hinaus. Faire transatlantische Lastenteilung hat viele Aspekte und muss vor allem einem modernen Sicherheitsbegriff folgen. Der umfasst, dass wir als Europäer in unseren Nachbarregionen zukünftig effizient für Sicherheit sorgen können und dies auch im amerikanischen Sicherheitsinteresse liegt. Dazu gehört auch die sicherheitspolitische Relevanz des Diplomatischen und Entwicklungspolitischen zu schätzen und dessen Zusammenwirken mit dem Militärischen in den Mittelpunkt zu stellen. Und schließlich geht es bei all dem auch um den Weitblick im strategischen Konsens, dass wir als Westen unsere Fähigkeiten und Stärken in all diesen Bereichen so einzubringen bereit sind, dass die nicht-westliche Welt überzeugt wird, dass wir nicht gegen sie stehen. Das alles beschreibt weit über eine faire Lastenteilung in der Allianz hinaus das große Bild des atlantischen Burdensharings.
Welche Rolle wird die NATO in zehn Jahren in der transatlantischen Sicherheitspolitik einnehmen?
Ich bin mir sehr sicher, dass die NATO weiterhin der Eckpfeiler unserer Sicherheit auf dem europäischen Kontinent und im atlantischen Raum sein wird. Sie wird die kollektive Verteidigung weiterhin garantieren und Ausdruck des verbundenen transatlantischen Willens zu Frieden, Freiheit und Sicherheit sein. Sie wird engstens mit einer gestärkten und relevanten Europäischen Verteidigungsunion zusammenwirken, einen europäischeren Charakter haben und sehr wahrscheinlich noch intensiver durch Partnerschaften und Kooperationen auch außerhalb des europäischen Raumes geprägt werden. Und ich hoffe sehr, dass es die Politik Moskaus erlauben wird, auch wieder zu einem besseren Miteinander mit Russland zu kommen, in einer Dekade.
Hinweis: Dr. von Geyr hat in diesem Gespräch seine persönliche Meinung wiedergegeben.