Der geschwächte Gewinner
Die Wiederwahl von Justin Trudeau als Regierungschef garantiert den Fortbestand des guten Einvernehmens zwischen dem nordamerikanischen Land und Europa.
Die Parlamentswahl in Kanada hat die Liberale Partei von Premierminister Justin Trudeau knapp im Amt bestätigt. Die Europäer werden somit auf der anderen Seite des Atlantiks mit Kanada auch in den kommenden Jahren einen Partner haben, mit dem sie eng zusammenarbeiten können und der sich den transatlantischen Beziehungen und dem Multilateralismus verpflichtet sieht.
Nach fünf Wochen eines erbittert geführten, teils hässlichen Wahlkampfs konnte Trudeau in der Wahlnacht aufatmen. Seine Partei geht zwar geschwächt aus der Wahl hervor, liegt mit 157 Sitzen aber doch klarer vor den Konservativen (121 Sitze), als von den meisten Umfragen prognostiziert worden war, und kann als Partei mit den meisten Sitzen die Regierung stellen. Die absolute Mehrheit von 170 Sitzen hat Trudeau aber deutlich verfehlt. Das Regieren wird für ihn schwieriger, denn er ist auf Unterstützung durch andere Parteien angewiesen. Nicht nur das: Die Konservativen von Andrew Scheer liegen mit 34,4 Prozent der Stimmen vor den Liberalen mit 33,1 Prozent. Nur das kanadische Wahlrecht, das auf dem Mehrheitsprinzip beruht, half den Liberalen, die meisten Wahlkreise und damit die meisten Sitze im Parlament zu gewinnen.
EU-Ratspräsident Donald Tusk schickte am Dienstagmorgen über den Kurznachrichtendienst Twitter einen Glückwunsch nach Ottawa. „Es gibt einen besonderen Platz in unseren europäischen Herzen für PM Justin Trudeau“, heißt es in seinem Tweet. Wahrscheinlich kann man davon ausgehen, dass Tusk sein Statement bewusst so formuliert hat. Es ist eine Umkehrung der berüchtigten Aussage von Peter Navarro, des Wirtschaftsberaters von US-Präsident Donald Trump, der nach dem G7-Gipfel von La Malbaie im Juni 2018 angesichts der öffentlich ausgetragenen Kontroverse um US-Strafzölle auf kanadische Stahl- und Aluminiumprodukte davon sprach, dass für Trudeau ein „besonderer Platz in der Hölle“ vorgesehen sei – eine Wortwahl, für die sich Navarro kurz darauf entschuldigte.
Die Konservativen um Andrew Scheer wären von der Linie der meisten EU-Staaten abgewichen.
Für die Europäer bedeutet die Wahl Trudeaus vor allem Stabilität in den Beziehungen zu diesem Partner in Nordamerika. Zwar wäre auch im Falle einer Wahl von Andrew Scheer und seiner Konservativen Partei Kanada nicht komplett auf die Linie der disruptiven, zerstörerischen Politik des Mannes im Weißen Haus eingeschwenkt. Aber Scheer hätte mit einer spürbar schwächeren Klimapolitik, mit der Kürzung der kanadischen Auslandshilfe und vor allem der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels und der Verlegung der kanadischen Botschaft nach Jerusalem doch neue Akzente gesetzt und wäre damit auch von der Linie der meisten EU-Staaten abgewichen. Sein Kürzungsvorschlag für die Auslandshilfe sei „bizarr und Trump-ähnlich“, meinte Aniket Bhushan, Professor an der Carleton-Universität Ottawa. Und Bessma Mamoni, Nahostexperte an der Universität von Waterloo, warnte, Scheers Politik zu Jerusalem, die von der bisherigen offiziellen Position Kanadas abweicht, könnte die Spannungen in der Region weiter schüren. Scheer hat auch öffentlich den Brexit unterstützt und Trudeau kritisiert, der sich vor dem Brexit-Referendum und später im EU-Parlament für ein geeintes und starkes Europa ausgesprochen hatte.
In Zeiten der Verwerfungen und Unsicherheiten in Europa rund um den Brexit ist es für die Europäer gut, in Trudeau einen vertrauten Regierungschef in Ottawa zu haben. Angesichts all der Reden über Nationalismus und Populismus, die „auf eine dunklere Phase in den internationalen Beziehungen hindeuten“, sei der Ausgang der Wahl in Kanada eine gute Nachricht, sagt der frühere Botschafter Kanadas in Deutschland und ehemalige UN-Botschafter, Paul Heinbecker, im Gespräch mit der Atlantik-Brücke. „Wenn die Europäer nach einem Licht im Fenster suchen, dann kann man sagen, dass das kanadische Licht angeschaltet ist.“
Trudeau machte am Mittwoch auf seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl deutlich, dass er auf weitere Zusammenarbeit „mit Freunden und Partnern, nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks, sondern rund um die Welt“ setzt. Dies erhofft er sich bei wichtigen Fragen wie Klimawandel, Stärkung der Demokratien und „wirklichen und fairen Chancen für jeden“. „Dies sind Themen, bei denen wir eine starke Übereinstimmung mit vielen europäischen Freunden und Partnern haben“, sagte er auf eine Frage des Verfassers dieser Analyse. „Ich werde weiterhin sicherstellen, dass sich Kanada verantwortungsvoll und angemessen in der Welt engagiert.“
Trudeaus „Canada is back“ half ihm im ersten Jahr, aber dann kam Donald Trump.
Bedauerlicherweise spielte Außenpolitik im Wahlkampf keine Rolle. Dazu trug auch Trudeau bei, indem er sich weigerte, an der von der „Munk School of Global Affairs and Public Policy“ in Toronto geplanten Debatte über Außenpolitik teilzunehmen, die daraufhin abgesagt wurde. Dass Außenpolitik dann tatsächlich keine Rolle im Wahlkampf spielte, mag, wie es Jeremy Kinsman, früherer High Commissioner Kanadas in Großbritannien und Botschafter bei der EU im kanadischen Magazin „Policy“ formuliert, daran liegen, dass sich Wahlkämpfe in Kanada um „Geldbeutel- und Küchentisch-Themen und immer um die Führungspersonen, aber selten um Geopolitik“ drehen.
Vor vier Jahren war Trudeau mit der Parole angetreten, Kanada sei als multilateraler Akteur wieder auf die Bühne zurückgekehrt („Canada is back“). Der Gleichklang mit US-Präsident Barack Obama half ihm im ersten Jahr, aber dann kam Trump. Die erratische Politik des US-Präsidenten, die Aufkündigung von NAFTA und seine Handelskriege forderten von Trudeau und Außenministerin Chrystia Freeland viel Kraft und Konzentration. Nach Einschätzung der meisten Beobachter hat die Trudeau-Regierung das US-Portfolio gut gemanagt und dadurch eine Vereinbarung über ein neugestaltetes NAFTA-Abkommen erreicht. „Er hat diese sehr, sehr schwierige Beziehung gut gehandhabt“, sagt auch Heinbecker, „so gut, wie es irgendwie möglich war“.
Unerklärlicherweise hob Trudeau dies nicht als Erfolg im Wahlkampf hervor. Das wunderte auch den bisherigen Botschafter Kanadas in den USA, David Naughton: „Alle Umfragen deuten darauf hin, dass die meisten Kanadier übereinstimmen, dass die Liberalen das gut gemacht haben.“ Mit Seitenhieben auf Donald Trump hätte Trudeau vielleicht sogar Wähler hinter sich scharen können. Aber dafür sind die US-Kanada-Beziehungen offenbar zu delikat. Die Versuchung, eine populistische Kampagne gegen Trump zu führen, werde dadurch gedämpft, dass die Kanadier von ihrem Regierungschef erwarten, dass er eine zivilisierte Beziehung zu dem mächtigen US-Politiker pflegt, die wiederum Kanada vor dessen „impulsiver Rachsucht“ schützt, wie Kinsman formuliert. Man kann davon ausgehen, dass sich Trudeau auch in seiner zweiten Amtszeit an die Vorgabe hält, eine vernünftige Arbeitsbeziehung zu dem unberechenbaren Trump zu pflegen. Trump, dessen Impeachment-Probleme täglich wachsen, hat wohl auch nicht viel Zeit, sich mit Kanada zu befassen. Was für Kanada eher von Vorteil sein kann.
In Zeiten der Trump-Regierung in den USA haben die Bindungen zwischen der EU und Kanada eine besondere Bedeutung.
Gegenüber der Europäischen Union sieht sich Kanada als der verlässliche Partner Europas in Nordamerika. In der Vergangenheit wurden die kanadisch-europäischen Beziehungen oft als „die vergessene transatlantische Partnerschaft“ bezeichnet und mit „wohlwollender Vernachlässigung“ (benign neglect) beschrieben. Das galt insbesondere für Phasen, in denen die Beziehungen zwischen Europa und den USA blühten und diese die transatlantische Partnerschaft prägten.
Jetzt aber ist es anders. In Zeiten der Trump-Regierung in den USA haben die EU-Kanada-Bindungen eine besondere Bedeutung. Das hatte sich im Sommer beim EU-Kanada-Gipfel in Montreal gezeigt, als beide Seiten ihre enge Partnerschaft und ihren Willen zur Kooperation unterstrichen. Als „Partner und Freunde“ stellten sich die Europäische Union und Kanada den Herausforderungen, sei es Klimawandel, Terrorismus oder freier und fairer Handel, sagte Trudeau damals und verwies auf das Handelsabkommen CETA und das Dokument über die „Strategische Partnerschaft“. EU-Ratspräsident Donald Tusk bezeichnete im Gegenzug Kanada als „unseren engsten transatlantischen Partner“. Europa sollte sich bewusst sein, wie wichtig Kanada gerade jetzt angesichts der Unsicherheiten, die die US-Regierung unter Donald Trump verbreite, sei, urteilte Heinbecker anlässlich des EU-Kanada-Treffens in Montreal. „Europa kann auf Kanada zählen, wenn es um Sicherheit, Handel und Investitionen, Klimaschutz und Umweltpolitik, die Erhaltung einer liberalen Ordnung und der nach dem Kalten Krieg aufgebauten Ordnung in Europa geht.“
Bei Angela Merkel oder Emmanuel Macron ist Justin Trudeau ein gern gesehener Gast. Umgekehrt braucht der Kanadier aber auch die Unterstützung der Europäer und anderer ihm und Kanada wohlgesonnener Staaten. Dies ist etwa bei den gespannten Beziehungen Kanadas zu China gewünscht. Weil Kanada auf Antrag der USA die Finanzchefin des Hightech-Konzerns Huawei, Meng Wanzhou, festgenommen hat, zieht China die Daumenschrauben gegenüber Kanada an, storniert Importe aus Kanada und hat zwei kanadische Staatsbürger festgenommen – willkürlich, wie Kanada sagt. „Wir sind froh zu sehen, dass so viele unserer Verbündeten sich für kanadische Interessen und die Interessen der inhaftierten Kanadier einsetzen“, sagte Trudeau am Mittwoch.
Kanada und die Europäer haben die Gelegenheit, ihre Beziehungen weiter zu pflegen. Wie weit die Freundschaft geht, wird sich zeigen, wenn im kommenden Jahr die Vollversammlung der Vereinten Nationen die nichtständigen Mitglieder des Sicherheitsrates wählt. Kanada bewirbt sich um einer der zwei freien Sitze für die Jahre 2021 und 2022. Es hat starke Konkurrenten: Norwegen und Irland.
Gerd Braune lebt seit 1997 in der kanadischen Hauptstadt Ottawa und berichtet als freiberuflicher Korrespondent für Tageszeitungen in Deutschland, der Schweiz, Luxemburg und Österreich über Kanada. Seine Recherchen führten ihn in alle Regionen des Landes. Sein besonderes Interesse gilt den transatlantischen Beziehungen und den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Arktis.