Kehrt der US-Isolationismus zurück?
von Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke
Was ist schon die Nachricht wert, dass in Washington ein neuer Think Tank für Außen und Sicherheitspolitik gegründet wurde? Wenig, sollte man meinen. Aber die Gründung des Quincy Institute for Responsible Statecraft im Sommer dieses Jahres ist mehr als nur eine Randnotiz wert – denn ermöglicht wurde sie maßgeblich durch Mittel von zwei Großspendern, deren Weltsichten nicht weiter auseinanderliegen könnten: George Soros, ein sozialliberaler Globalist, und der konservativ-libertäre Charles Koch, den US-Präsident Donald Trump wohl einen Patrioten nennen würde. Die Gründung des neuen Quincy Instituts wurde in den USA heiß diskutiert, nicht nur wegen seiner prominenten Förderer.
Das neue Institut hat sich zur Aufgabe gemacht, „Amerikas endlose Kriege zu beenden“. Es beruft sich dabei auf den 6. Präsidenten der USA, John Quincy Adams. Adams gilt als Verfechter des Isolationismus, also einer Politik der USA, die sich aus der Weltpolitik heraushält. In einer Rede anlässlich des Unabhängigkeitstages 1821 drückte er diese Doktrin so aus: „Die Vereinigten Staaten von Amerika ziehen nicht aus, um in der Fremde Ungeheuer zu suchen, die sie zerstören können. Sie sind der Gratulant der Freiheit und der Unabhängigkeit aller. Sie sind Verfechter und Verteidiger nur ihrer selbst.“
Der Isolationismus ist so alt wie die USA, und er liegt in ihrer schwierigen transatlantischen Geschichte begründet. Es war vor allem der Wunsch der europäischen Einwanderer in diesem Land, dass nur kurze Zeit vor Adams‘ Präsidentschaft seine Unabhängigkeit von der einstigen Kolonialmacht erklärt hatte, sich herauszuhalten aus den Wirren des europäischen Kontinents. Man wollte die Zukunft selbstbestimmt und unabhängig gestalten – und so wurde der Isolationismus das Leitmotiv der US-Außenpolitik. Dies änderte sich erst mit dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg, also knapp 100 Jahre nachdem John Quincy Adams dem Isolationismus eine Doktrin gegeben hatte. Es ist Woodrow Wilson, der stellvertretend für das andere außenpolitische Leitmotiv der Vereinigten Staaten steht, den Interventionismus, demzufolge es die Aufgabe und das Interesse der USA ist, sich international für eine Welt in der Freiheit, Unabhängigkeit und Frieden zu engagieren. Auch dieser Gedanke findet seine Inspiration eher in der amerikanischen Geschichte als in außenpolitischen Zwängen. „Manifest Destiny“, oder wie es der Journalist O’Sullivan ausdrückt, „die offenkundige Bestimmung der Nation, sich auszubreiten und den gesamten Kontinent in Besitz zu nehmen, den die Vorsehung uns für die Entwicklung des großen Experimentes Freiheit und zu einem Bündnis vereinigter Souveräne anvertraut hat.“ Ursprünglich bezog sich diese Doktrin auf die Besiedlung der westlichen Gebiete der USA. Mit ihrem Abschluss und Amerikas wirtschaftlicher und militärischer Stärke in der Welt aber wurde der Bezugsrahmen zur Fortsetzung des „Experiments Freiheit“ erweitert.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem beginnenden Kalten Krieg ersetzte der Interventionismus den Isolationismus der USA als außenpolitisches Leitmotiv. Die heute viel beschriebene „liberal order“ fußt auf den Prämissen der liberalen Interventionisten. Wie stark der Einfluss von Manifest Destiny auf die außenpolitische Konzeption der USA noch immer ist, zeigt sich in einer Aussage Bill Clintons Ende des 20. Jahrhunderts. Er bezeichnete die USA als die „indispensable nation“, als die unabdingbare Nation.
Aus seiner Zeit heraus betrachtet hatte Bill Clinton sicherlich recht. Und – das werden die Geschichtsbücher zeigen müssen – waren es auch seine Jahre als US-Präsident, die nicht nur den Zenit der Macht der USA markierten, sondern auch den Höhepunkt des liberalen Internationalismus als Prinzip der US Außenpolitik. Sein Nachfolger, George W. Bush, stand ebenso in dieser Tradition – und führte das Land in zwei bewaffnete Konflikte, die heute synonym für Amerikas endlose Kriege stehen: Afghanistan und Irak. Es war ein zentrales Wahlkampfversprechen Barack Obamas, den militärischen Fußabdruck der USA in der Welt, vor allem aber die Missionen im Nahen und Mittleren Osten, zu einem Ende zu bringen und die Truppen zurück in die USA. Er versuchte, das Vakuum, dass er mit der daraus abgeleiteten Politik entstehen ließ, durch multilaterale Verträge zu füllen und forderte von den Partnern der USA mehr Verantwortungsübernahme für die eigene Sicherheit.
Donald Trump mit seiner „Nation zuerst“-Doktrin ist ebenfalls bestrebt, sich aus den militärischen Einsätzen im Nahen und Mittleren Osten zurückzuziehen. Aber er ist kein Isolationist, wie der konservative amerikanische Publizist Robert Kagan zu Recht anmerkte. Der derzeitige US-Präsident will sich sehr wohl in die Welt einmischen, aber nicht um eine „liberal order“ als „indispensible nation“ aufrechtzuerhalten, sondern um amerikanische Interessen mit Hilfe der wirtschaftlichen Dominanz des Dollar durchzusetzen, notfalls auch gegen die Partner und Alliierten der USA.
Es gibt eine neue Sehnsucht, der Welt den Rücken zuzudrehen.
Aber es gibt große Schnittmengen in der öffentlichen Wahrnehmung der Politik des US-Präsidenten mit der neuen Sehnsucht, der Welt den Rücken zuzudrehen. Auch wenn Trump für seine Allianzpolitik massiv – sogar in den eigenen Reihen – in der Kritik steht, findet seine Politik des militärischen Rückzugs Anerkennung in ganz anderen Kreisen, nämlich beim linken Flügel der Demokraten. Es war Bernie Sanders, der den Begriff „Amerikas endlose Kriege“ wieder ins Gespräch brachte, und der vor allem ein Umdenken in Bezug auf das Militär als Instrument der US-Außenpolitik fordert. Seine demokratische Mitbewerberin um das Präsidentenamt, Elizabeth Warren, gilt ebenfalls als Verfechterin dieser Idee des Rückzuges.
Das Quincy Institute greift die Rückzugsthese ebenso auf wie die zentrale Rolle des Militärs. In den Leitlinien wird die Ausrichtung des Instituts klar: „Die USA sollten mit der Welt im Austausch stehen. Der Kern dieses Austauschs ist die friedliche Kooperation zwischen den Völkern. Darum müssen die USA den Frieden wertschätzen und ihn durch nachdrückliche Diplomatie verfolgen […] Der Einsatz von Streitkräften ist nicht gleichbedeutend mit Amerikas Engagement in der Welt. Gewalt beendet menschliches Leben […] und verhindert jeden echten Dialog. Jeglicher Einsatz militärischer Gewalt sollte nur als letztes Mittel erfolgen. Aufgabe des Militärs ist es, die Bürger und das Territorium der USA zu verteidigen und nicht als globale Polizei zu agieren“.
Mit diesem Ansatz sticht das Institut heraus in der Think Tank Landschaft Washingtons, denn hier, egal ob eher konservativ oder eher liberal-progressiv ausgerichtet, wird die Notwendigkeit eines – auch militärischen – internationalen Engagements nicht derart grundsätzlich in Frage gestellt. Es ist auch diese interventionistische Konsensblase in der außen- und sicherheitspolitischen Think Tank-Welt in Washington, gegen die sich das Quincy-Institute ausdrücklich wendet. Die Gründungsmitglieder wollen diese Kruste aufbrechen, und über eine US-Außenpolitik, die weniger auf das Militär als außenpolitisches Gestaltungsinstrument als auf überlegene Diplomatie setzt, nachdenken. Wie Daniel Wertheim, einer der Gründer betont, sieht sich – trotz der Anleihen an John Quincy Adams – das Institut ausdrücklich nicht als Ausdruck eines isolationistischen Reflexes. Es geht nicht darum, dass sich die USA aus der Welt zurückziehen, sondern darum, wie sie ihre Verbindungen in der Welt gestalten sollen. Außerdem geht es um eine Kritik daran, dass in der Vergangenheit zu leichtfertig mit dem Einsatz militärischer Mittel umgegangen wurde. Man möchte nicht in die Schublade Isolationist oder Interventionist eingeordnet werden oder überhaupt entlang eines Parteienspektrums. Das Selbstverständnis des Quincy Instituts ist „transpartisan“ – also jenseits der Kategorien entweder-oder zu diskutieren.
Das Quincy Institute greift einen Trend auf: Den Rückzug der USA von ihrer Rolle als Garant einer globalen Ordnung.
Dass sich ausgerechnet die beiden Männer darauf einigen können, die mit ihren Milliarden die beiden Lager der US-Politik, Demokraten und Republikaner unterstützen, Geld in dieses Institut zu investieren, zeigt, dass das Quincy Institute einen Trend aufgreift, der unabhängig des parteipolitischen Hintergrund zunehmend Unterstützung findet: Den Rückzug der USA von ihrer Rolle als Garant einer globalen Ordnung. Ob die Finanzierung zwischen Koch und Soros besprochen wurde und wie sie im einzelnen zustande kam oder von den Stiftungen begründet wurden, ist unklar. Sie ist wohl auch müßig, denn im Juli hat sich das Institut auch mit ihren Mitteln gegründet.
Aber nicht nur das Geld der Milliardäre oder die Tatsache, dass es hier offensichtliche Anknüpfungspunkte zwischen so unterschiedlich orientierten Akteuren wie dem aktuellen Präsidenten und seinen möglichen Herausforderern Bernie Sanders und Elizabeth Warren gibt zeigt, dass das Institut und seine Ausrichtung als Herausforderer der herrschenden, interventionistischen Meinung in der außen- und sicherheitspolitischen Debatte den Finger in eine offene Wunde legt. Seine Gründung wurde in den USA, anders als in den deutschsprachigen Medien, heftig diskutiert. Schnell wurden die Geschütze der herrschenden Meinung aufgefahren, und das Institut des „Isolationismus“ bezichtigt.
Ob die Debatte, die sich um die Gründung des Quincy-Institutes entfacht hat, aber ein Strohfeuer ist, oder es dem Institut tatsächlich gelingt, einen messbaren Beitrag zu leisten, um „Amerikas endlose Kriege“ zu beenden, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen.
Das Volk ist der vielen Kriege müde.
Viel wichtiger ist die Beobachtung, dass die Gründung offensichtlich einen Trend aufgreift, der zwischen den zunehmend polarisierten politischen Lagern konsensfähig zu sein scheint. Es muss also davon ausgegangen werden, dass auch nach Donald Trump die Idee des „Rückzuges“ der USA politisch attraktiv bleiben wird. Das Volk ist der vielen Kriege müde.
Von diesem Trend lässt sich etwas für die aktuelle deutsche Außen- und sicherheitspolitische Debatte ableiten, die ja nicht minder munter geführt wird, spätestens seit den beiden Vorstößen von Annegret Kramp-Karrenbauer. Es wäre ebenso einfach wie töricht, aus deutscher und europäischer Sicht aus den Signalen, die der wachsende Trend des Isolationismus über den Atlantik sendet, einem Gefühl der Überlegenheit nach dem Motto „haben wir ja schon immer gesagt: Weniger Militär – mehr Frieden“ nachzugeben. Auch ein zweiter möglicher Schluss, dass Deutschland nun, da die USA sich militärisch nicht mehr engagieren, internationale Verantwortung nun vorrangig durch den Einsatz militärischer Mittel übernimmt, ist falsch.
Für Deutschland ist weder moralische Überlegenheit noch die Substitution des militärischen Engagements der USA angezeigt.
Es ist weder moralische Überlegenheit noch die Substitution des militärischen Engagements der USA angezeigt. Vielmehr geht es darum, eine eigene Vorstellung von Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln – Fragen, die das Militär zwar einschließen, aber weit darüber hinausgehen.
Hier zeigt sich in der deutschen Debatte eine Parallele zum US-Diskurs – auch hier herrscht eine Konsensblase, die am besten unter dem Motto „Mehr Verantwortung übernehmen“ zusammengefasst wird. Das gilt auch für die – im Vergleich zu den USA sehr überschaubare – Landschaft der Denkfabriken in Berlin. Der Begriff der „Verantwortung“ hat dabei den Vorteil, dass er von allen Seiten interpretiert werden kann. Internationale Verantwortung kann demnach ebenso militärische Zurückhaltung sein wie verstärktes militärisches Engagement. Die Auslegung passt sich also dem Interpreten an.
Am schönsten aber ist, dass die Bekundung, man übernehme von nun an „mehr Verantwortung“, auch leicht das gute Gefühl hervorruft, dass man ja bereits etwas tue. Dabei treten wir – bei aller Wiederbelebung, die Annegret Kramp-Karrenbauers selbst-deklarierte Grundsatzrede der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland gegeben hat – seit Jahren auf der Stelle. Und trotz Stillstand und inhaltlicher Leere, die diese Debatte prägt: Es ist an ihr kein Mangel. Wir diskutieren seit Jahren über vernetzte Sicherheit und darüber, dass Deutschland vor allem im europäischen Kontext mehr Verantwortung für Sicherheit übernehmen muss – ohne nennenswerte Fortschritte.
Viele Think Tanks im politischen Umfeld Berlins stellen sich Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Mittlerweile nehmen Einrichtungen wie die Stiftung Wissenschaft und Politik vordere Plätze bei internationalen Vergleichsrankings ein, und das mit gewisser Berechtigung. Im Unterschied zu ihren Gegenstücken in den USA ist ihre Ausrichtung weniger stark von wirtschaftlichen oder politischen Partikularinteressen geprägt. Ihr Selbstverständnis ist primär akademisch. Gerade auch um diese Unabhängigkeit zu erhalten, hat die Bundesregierung die Mittel für Friedens- und Konfliktforschung erhöht. Trotz aller akademischer Disziplin und Vielfalt: Zu einer Ausgestaltung des Begriffes „Verantwortung“ tragen die Ergebnisse der Forschung selten bei. Von einem Wettstreit der Ideen sind wir jedenfalls auf der politischen Bühne weit entfernt. Vielmehr drängt sich der Eindruck von einem Wettbewerb der Befindlichkeiten auf.
Die USA werden sich weiter von ihren internationalen Engagements zurückziehen. Das Volk ist der Kriege, die weit entfernt sind und endlos scheinen, müde. Das gilt für Demokraten und Republikaner, für die Anhänger Trumps und die seiner Herausforderer. Die Frage, die das Quincy-Institute stellt, nämlich wie eine zukünftige US-Außenpolitik aussehen kann, ist eine, die uns als ein auf vielfältige Weise – auch militärisch – mit den USA verbundenes Land brennend interessieren muss.
Klar ist: Deutschland wird mehr in Sicherheit investieren müssen – die eigene, vor allem aber die im Bündnis, europäisch wie transatlantisch, denn davon war und bleibt die Deutschlands Sicherheit abhängig. Sie liegt in unserem Interesse. Dazu gehört auch der Umgang mit dem militärischen Instrument. Wir sind aus guten Gründen zurückhaltend in dieser Frage. Zurückhaltung darf aber nicht mit Verdrängung verwechselt werden. Nur weil es schwer und unangenehm ist, dürfen wir uns dieser Frage nicht entziehen. Und nur weil man sie stellt, bedeutet dies nicht, dass man einer verantwortungslosen Militarisierung der deutschen Politik den Mund redet.
Die grundlegenden Verschiebungen und Veränderungen der internationalen Politik, die wir seit einigen Jahren erleben machen überdeutlich, dass wir in Deutschland gefordert sind, außen- und sicherheitspolitisch neu zu denken. Damit wir aber nicht in alte Reflexe fallen und uns an Rezepten der Vergangenheit festhalten, dürfen wir unser politisches Sensorium für die Realitäten internationaler Politik nicht verlieren. Deutschland ist also weniger auf der Suche nach seinem John Quincy Adams, als nach „responsible statecraft“, verantwortungsbewusster Staatskunst, die das Institut in seinem Namen trägt.