Gesellschaft

„Man muss den Zahlen leider ins Auge sehen“

Naturwissenschaftler Philipp Merkl im Interview
„Man muss den Zahlen leider ins Auge sehen“ Dr. Philipp Merkl Foto: Atlantik-Brücke

Der Biochemiker und Virologe Philipp Merkl rechnet für den Verlauf der Corona-Pandemie in den USA mit dem Schlimmsten. Merkl, der auch an der Harvard Medical School gearbeitet hat, spricht im Interview über Gesundheitssysteme an der Kapazitätsgrenze, die Lage in Deutschland und internationale Solidarität in Zeiten der globalen Krise.

Von Robin Fehrenbach

Herr Merkl, die USA sind das neue Epizentrum der Corona-Pandemie. Die Zahl der Infizierten in den Vereinigten Staaten übertrifft inzwischen China. Präsident Trump rechnet mit bis zu 100.000 Toten. Welchen Verlauf der Pandemie erwarten Sie für die USA?

Aktuelle epidemiologische Modelle prognostizieren eine Zahl von 80.000 bis 200.000 Toten in den USA, sofern die ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie streng umgesetzt werden. Auch Dr. Anthony Fauci, Direktor des NIAID und Mitglied der Corona Task Force im Weißen Haus, geht von Zahlen in dieser Größenordnung aus, denen man leider ins Auge sehen muss. Worst Case-Szenarien von Mitte März, vor Ergreifung der Maßnahmen zur Eindämmung, sagten bis zu 2 Millionen Tote voraus, was wesentlich zum Umschwenken der Strategie der Administration beitrug.

Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Datengrundlage für die epidemiologischen Modelle zur Ausbreitung von SARS CoV-2 immer noch dünn ist, so dass die Prognosen fehlerbehaftet sind. Zudem ist unklar, wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten, die die Vorhersagen maßgeblich beeinflusst, tatsächlich ist. Klar ist, dass die USA immer noch am Anfang der Epidemie stehen und eine rasante Entwicklung der Fallzahlen zu erwarten ist. Der Bundesstaat New York mit 20 Millionen Einwohnern hat heute Deutschland mit 82 Millionen Einwohnern in der Zahl der bestätigten Infektionen überholt. Dort ist das Gesundheitssystem punktuell bereits an der Kapazitätsgrenze. Laut Gouverneur Andrew Cuomo wird jede realistische Prognose des Verlaufs der Epidemie die medizinische Infrastruktur überfordern. Es ist davon auszugehen, dass sich dies in anderen Hotspots wie New Orleans, Chicago und Detroit fortsetzen wird. Der Ausgang der Pandemie in den USA wird auch wesentlich davon abhängen, ob Patienten aus derzeit besonders betroffenen Gebieten in anderen Landesteilen versorgt werden können, so lange dort noch Kapazitäten vorhanden sind bzw. ob Kapazitäten, auch personell, vor Ort verstärkt werden können.

Klar ist, dass die USA immer noch am Anfang der Epidemie stehen und eine rasante Entwicklung der Fallzahlen zu erwarten ist.

Sie kennen das Gesundheitssystem der USA sehr gut und haben lange an der Harvard Medical School geforscht. Wie fällt ihr erstes Zwischenfazit aus, wenn Sie die gesundheitspolitische Reaktion der Amerikaner mit der Antwort Deutschlands auf die Covid-19-Krise vergleichen?

Alle Staaten haben die Gefährlichkeit der Pandemie zunächst unterschätzt, das gilt für die USA wie für Deutschland. Die USA haben aber gerade zu Beginn des Infektionsgeschehens im eigenen Land auf Grund der Probleme mit den SARS CoV-2 Tests und der Haltung von Präsident Trump zusätzlich Zeit verloren. Bereits in der zweiten Januarhälfte wurde ein SARS CoV-2 Test von Virologen der Berliner Charité veröffentlicht und von der WHO freigegeben. Die CDC entschied aber, mit ihrem eigens entwickelten Test zu arbeiten, bei dem Anfang Februar festgestellt wurde, dass er fehlerhaft war. Andere, in universitären Labors entwickelte Testverfahren waren zu diesem Zeitpunkt von der FDA noch nicht zugelassen. Das führte in der Summe zu extrem wenigen Tests in den USA bis Ende Februar. Es ist daher im Vergleich zu Deutschland von einer deutlich höheren Dunkelziffer nicht entdeckter Infektionen in den USA auszugehen. Dies spiegelt sich sowohl im rasanten Zuwachs von bestätigten Infektionen in den USA als auch in der Anzahl der Todesopfer wider.

Von der US-Administration wurden zügig Grenzschließungen für Reisende aus besonders betroffenen Ländern angeordnet, die den Import von vielen Infizierten verhindert haben dürfte. Allerdings war die Epidemie zu diesem Zeitpunkt bereits im Land angekommen. Auf der anderen Seite hat die späte Schließung der Außen- und Binnengrenzen des Schengenraums die Ausbreitung der Epidemie in Europa begünstigt. In Deutschland konnte das Infektionsgeschehen abgesehen von den ersten Fällen in München nicht unter Kontrolle gehalten werden. Maßgeblich verantwortlich für die Entwicklung der deutschen Hotspots dürften infizierte Rückkehrer aus dem Skiurlaub, die Karnevalssaison und beginnende Frühlingsfeste sein.

Deutschland hat so in der Summe im Vergleich zu den USA vermutlich etwas mehr Zeit gewonnen, um die medizinische Infrastruktur auf den Ansturm der Patienten vorzubereiten.

Sowohl in den USA als auch in Deutschland ergriffen zunächst einzelne besonders betroffene Bundesländer bzw. -staaten, wie Kalifornien, New York oder Bayern die Initiative und führten restriktive Maßnahmen ein, was auch in der föderalen Struktur beider Länder begründet liegt. Da das Portfolio an Maßnahmen (Schulschließungen, social distancing, Verbot von Veranstaltungen, Ausgangssperren) bis heute in den USA je nach Bundesstaat sehr unterschiedlich umgesetzt wird und auch der Flugverkehr innerhalb des Landes weitgehend möglich ist, wird die weitere Ausbreitung derzeit nicht so effektiv unterbunden, wie durch die strikten Maßnahmen in Deutschland bzw. Europa. Deutschland hat so in der Summe im Vergleich zu den USA vermutlich etwas mehr Zeit gewonnen, um die medizinische Infrastruktur auf den Ansturm der Patienten vorzubereiten.

Große Pharmaunternehmen suchen mit Hochdruck im Verbund mit Start-ups und Universitäten nach einem Impfstoff und einem Medikament gegen Covid-19. Auch der internationale Austausch und Kooperationsgedanke wird in der Krise nach und nach sichtbar. Wie bewerten Sie derzeit die Suche nach einem Impfstoff?

Wie alle Experten derzeit betonen, ist mit der Verfügbarkeit eines Impfstoffs erst im nächsten Jahr zu rechnen. Impfstoffkandidaten auf verschiedener Basis werden bereits im Labormaßstab getestet. Doch der Weg über drei Phasen von klinischen Studien hinweg bis zur Zulassung ist langwierig. Selbst wenn ein Impfstoffkandidat zunächst vielversprechend scheint, so muss gewährleistet sein, dass er sicher und wirksam ist. Auch die Suche nach neuen antiviralen Medikamenten wird aus denselben Gründen Zeit benötigen. Der schnellste Erfolg könnte tatsächlich in bereits für andere Erkrankungen zugelassenen Medikamenten liegen. Ein inzwischen durch die Medien bekannt gewordenes Beispiel ist der Wirkstoff Remdesivir, der ursprünglich während der Ebola Epidemie 2013-2016 entwickelt wurde und in Einzelfällen Wirksamkeit gegen SARS CoV-2 zu zeigen scheint. Klinische Studien dazu laufen derzeit.

Wenn einzelne Länder in dieser Krise primär ihr eigenes Wohl verfolgen, wird das im Gedächtnis der Bevölkerung nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Gerade deshalb ist es jetzt wichtig und richtig, dass Solidarität gelebt wird, wo es möglich ist.

Was die internationale Kooperation betrifft, bin ich verhalten optimistisch. Die Zusammenarbeit zwischen akademischen Institutionen untereinander und auch zu Industriepartnern wird wie bisher weitgehend reibungslos laufen. Größere Sorgen bereitet mir die Kooperation im zwischenstaatlichen Bereich, exemplarisch ist hierfür der Vorfall um die Firma CureVac. Wenn einzelne Länder in dieser Krise primär ihr eigenes Wohl verfolgen, wird das im Gedächtnis der Bevölkerung nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Gerade deshalb ist es jetzt wichtig und richtig, dass Solidarität gelebt wird, wo es möglich ist. Ein gutes Beispiel dafür ist die Aufnahme von Patienten aus besonders betroffenen Gebieten innerhalb Europas in angrenzenden Ländern, solange es deren Kapazitäten noch zulassen. Das gebieten die Vernunft und die Menschlichkeit.

Man muss davon ausgehen, dass virale Pandemien in einer globalisierten und hochgradig vernetzten Welt eher noch zunehmen werden. Bei allem Leid, bei aller Einschränkung hat doch die Corona-Krise im Grunde allen Staaten der Welt auch vor Augen gehalten, woran es unseren Gesundheitssystemen mangelt. Egal wie gut man ausgestattet war, fehlen Intensivbetten, medizinisches Schutzmaterial und nicht zuletzt das Personal, das derzeit weit über die Belastungsgrenze Leben rettet. Wo würden Sie nach der Krise ansetzen, um hier eine höhere Resilienz für künftige Pandemien aufzubauen?

Offensichtlich war kein Staat der Welt ausreichend auf diese Pandemie vorbereitet. Bei der fälligen Anpassung der Pandemiepläne nach der Krise muss aber auch ein Schritt vorausgedacht werden. Bei allem Leid, das derzeit durch SARS CoV-2 verursacht wird, müssen wir uns vor Augen führen, dass es Viren gibt, die Erkrankungen mit weit höheren Mortalitätsraten hervorrufen. Wenn neue Pandemiepläne nun alleine an den Erfahrungen mit SARS CoV-2 ausgerichtet werden, würden sie bei noch gravierenderen Erkrankungen, bei Pandemien, die sich noch schneller ausbreiten, oder die ganz andere medizinische Ausrüstung benötigen, wieder ins Leere laufen.

Der Bundesinnenminister hat am 31. März angekündigt, dass zukünftig größere Mengen von Schutzausrüstung bevorratet werden sollen. Weiterhin soll die Produktion medizinischer Güter in Deutschland erhöht werden. Beide Ansätze sind grundsätzlich vollkommen richtig, die konkrete Umsetzung wird über den Erfolg entscheiden. Deutschland benötigt eine strategische Reserve für haltbare medizinische Güter analog zur Ölreserve und die industriellen Kapazitäten zu deren Herstellung im Notfall.

Deutschland benötigt eine strategische Reserve für haltbare medizinische Güter analog zur Ölreserve und die industriellen Kapazitäten zu deren Herstellung im Notfall.

Grundsätzlich ist die Politik auch dazu aufgerufen, Kosteneinsparungen, Personalabbau, Klinikschließungen und die Bezahlung von Pflegekräften im Gesundheitswesen zu hinterfragen. Der Abbau von Überkapazitäten für die alltägliche Versorgung muss gegen mangelnde Belastbarkeit im Krisenfall abgewogen werden. Ein Gesundheitssystem, das nur auf Wirtschaftlichkeit getrimmt ist, ist anfälliger in Krisenzeiten, wie in den USA oder im Vereinigten Königreich zu beobachten. Bei Klinikschließungen sollte geprüft werden, ob die Standorte als schnell reaktivierbare Notfallreserve im Schlafmodus vorgehalten werden können. Zusätzlich ist eine Strategie vorstellbar, auf Basis von eingelagerten, modularen, transportablen Einheiten im Krisenfall an Ort und Stelle Notfallkrankenhäuser aufzubauen, um so dynamisch reagieren zu können. Geschwindigkeit ist ein zentraler Faktor bei der Bekämpfung von Epidemien.

Neben nationalen Lösungen ist es meines Erachtens auch nötig, eine europäische Strategie zur Vorratshaltung notfallmedizinisch wichtiger Güter, zur Verteilung von Patienten auf andere Länder und zur europaweiten Abstimmung von Eindämmungsmaßnahmen zu entwickeln. Am 19. März hat die EU-Kommission in einem ersten Schritt die Schaffung einer strategischen Reserve von Schutzausrüstung, Impfstoffen, Geräten für die Intensivmedizin und Labormaterial angekündigt, was ich ausdrücklich begrüße.

In einer beispiellosen Art und Weise haben moderne Industriestaaten das wirtschaftliche und öffentliche Leben quasi auf null heruntergefahren. Die Bundesregierung peilt aktuell den 20. April als Tag eines Wiedereintritts in die gesellschaftliche Normalität an. In den USA wird dagegen der 30. April diskutiert. Ab wann halten Sie es aus medizinischer Sicht für vertretbar, die allseits geltenden Einschränkungen stufenweise zu lockern?

Derzeit kann keine seriöse Aussage getroffen werden, wann und in welchem Umfang die Beschränkungen aus medizinischer Sicht gelockert werden können, da die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen noch nicht abschätzbar ist. Ausgehend von einer maximalen Inkubationszeit von 14 Tagen ist genau diese Zeitspanne der jeweilige Zeithorizont, der mindestens abzuwarten ist, bevor weitere Bewertungen vorgenommen werden können. Wie von Ministerpräsident Söder und Kanzleramtsminister Braun betont, kommt die Diskussion über eine Exit-Strategie daher jetzt zur falschen Zeit. Eine zu frühe Lockerung der Beschränkungen würde wieder zu einer unkontrollierbaren exponentiellen Zunahme der Infektionen führen und die bisherigen Maßnahmen ad absurdum führen.

Viele europäische Länder verfolgen eine Strategie zur Eindämmung, die als „Hammer and Dance“ beschrieben wird. Nachdem die Epidemie durch fortgesetzte Übertragung in der Bevölkerung außer Kontrolle geraten war, wird jetzt die Verringerung der Infektionszahlen durch den „Hammer“, die Summe aller derzeitigen Maßnahmen, erzwungen. Dies geschieht besonders im Hinblick darauf, dem Gesundheitssystem Zeit zur Vorbereitung zu verschaffen. Darauf folgt der „Tanz“ mit dem Virus, die Kontrolle lokaler Infektionsherde durch massives Testen im Umfeld der infizierten Personen und Isolationsmaßnahmen. Bestes Beispiel dafür sind die ersten in Deutschland aufgetretenen Fälle bei Mitarbeitern von Webasto, die lokal unter Kontrolle gehalten werden konnten.

Eine zu frühe Lockerung der Beschränkungen würde wieder zu einer unkontrollierbaren exponentiellen Zunahme der Infektionen führen und die bisherigen Maßnahmen ad absurdum führen.

Aus medizinischer Sicht ist somit klar, dass eine Lockerung erst in Betracht kommt, wenn die Neuinfektionsrate auf ein Maß gesunken ist, das für das Gesundheitssystem verkraftbar ist. Wann dies der Fall sein wird, ist noch nicht abschätzbar. Gleichzeitig müssen in diese Bewertung auch Experten anderer Disziplinen eingebunden werden, die z.B. Auswirkungen der Kontaktverbote auf die Psyche der Menschen beurteilen können.

Dr. Philipp Merkl ist Technology Manager an der Technischen Universität München. Seine Antworten in diesem Interview spiegeln nicht zwingend die Meinung seines Arbeitgebers wider. Zuvor forschte er als Postdoctoral Research Fellow an der Harvard Medical School. Merkl ist zudem Young Leader Alumnus der Atlantik-Brücke aus dem Jahrgang 2018.

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