Nach der Wahl ist vor der Wahl
Im politischen Amerika gilt die Devise: „Das Volk hat gewählt. Es lebe die nächste Wahl!“ Gerade einmal neun Monate ist Präsident Joe Biden im Amt und schon sind die Augen der Demokraten und Republikaner auf die Halbzeitwahlen im November 2022 gerichtet. Dann werden sämtliche 435 Abgeordnete im Repräsentantenhaus und ein Drittel der Mitglieder – genauer gesagt: dieses Mal 34 – des hundertköpfigen Senats neu bestimmt.
Die Nervosität ist groß, besonders bei den Demokraten. Gegenwärtig halten sie in beiden Häusern eine wenn auch nur äußerst knappe Mehrheit. Doch sollte ihre Abwärtsspirale in den Meinungsumfragen anhalten, könnte es in einem Jahr ein böses Erwachen geben. Zurzeit sieht es jedenfalls ganz danach aus, als würden die Republikaner auf jeden Fall die Mehrheit im Repräsentantenhaus zurückgewinnen. Das hieße: Für Joe Biden und seine Demokraten würde das Regieren noch schwieriger werden. Denn die Neigung zu Kompromissen ist in den politisch tief gespaltenen (Un)Vereinigten Staaten von Amerika eine rare Tugend.
Das Image des demokratischen Präsidenten hat schweren Schaden genommen.
Kurzum, es steht im Augenblick schlecht um das Ansehen von Joe Biden und seiner Regierung. Der chaotische Abzug aus Afghanistan, das unbewältigte Flüchtlingsproblem an der Südgrenze, rasant steigende Corona-Zahlen, der heftige Streit um Impf- und Maskenpflicht, das zermürbende Gezerre um Haushalt und staatliche Verschuldungsgrenze – inmitten all dieser sich türmenden Probleme hat das Image des demokratischen Präsidenten schweren Schaden genommen. War Biden doch nach der nahezu anarchischen Trump-Ära mit dem Versprechen angetreten, Ruhe in den politischen Betrieb zu bringen und die vielen Herausforderungen dank seiner politischen Erfahrung und der Erfahrung eines Heers an sachkundigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rasch zu schultern.
Wohl zu viel versprochen, die Zustimmungsraten für den Präsidenten befinden sich derzeit im freien Fall. Laut RealClearPolitics, die stets das Mittelmaß aller Umfragen berechnen, vertrauten Ende Januar knapp 56 Prozent der wahlberechtigten Amerikaner Bidens Amtsführung, 36 Prozent hatten eine schlechte Meinung. Jetzt ist es nahezu umgekehrt: Rund 52 Prozent finden, Biden mache einen schlechten Job, nur 43 Prozent sind noch zufrieden.
Es ist wahr, für jeden neuen Präsidenten ist sein erstes Jahr im Weißen Haus stets rau und voller Unwägbarkeiten. Die Erwartungen der Wähler und Wählerinnen, dass alles besser wird, sind hoch, die Möglichkeiten, das Blatt rasch und zu aller Zufriedenheit zu wenden, jedoch begrenzt. Und die Probleme werden meist nicht weniger, im Gegenteil. Wer wie ich dieser Tage durch das politische Washington wandelt und wissen will, welche der vielen Herausforderungen im Moment die größten Sorgen mache, erhält wie aus der Pistole geschossen immer dieselbe Antwort: Inflation und Migration.
Biden ist in der Einwanderungspolitik hin- und hergerissen.
Vor allem Liberale und Linke verbanden mit Bidens Wahl die Hoffnung auf eine menschlichere Einwanderungspolitik. Hatte doch der Republikaner Donald Trump mit seinem Einreisebann für Muslime, dem Mauerbau an der Grenze zu Mexiko, der brachialen Trennung von geflüchteten Familien und dem Einsperren von Kindern selbst etliche Parteifreunde gegen sich aufgebracht.
Der Demokrat Joe Biden versprach Umkehr, mehr Großherzigkeit – und erntet Sturm. Hunderttausende von Menschen aus Mittel- und Südamerika, Zehntausende Haitianer, die oft viele Jahre in anderen Ländern wie etwa Brasilien ausgeharrt hatten, machen sich seit Monaten auf den Weg in die Vereinigten Staaten. Und Biden tut sich schwer, eine Lösung zu finden, ist hin- und hergerissen zwischen vorsichtiger Öffnung und rabiater Abweisung. Die Lage ist unübersichtlich, um nicht zu sagen: chaotisch. „Das habt Ihr nun von Eurer Laxheit“, rufen die Republikaner. Und auf der anderen Seite zürnen Demokraten dem Präsidenten, weil ihnen das Grenzregime, die Asyl- und Einwanderungspolitik immer noch zu hart ist und die Zusammenführung der unter Trump auseinandergerissenen Familien zu zögerlich geschieht.
Die Inflation drückt aufs nationale Gemüt.
Mindestens ebenso aber machen dem Präsidenten und seiner Regierung die steigenden Preise zu schaffen. Die Inflation drückt aufs nationale Gemüt. Es hat ein wenig gedauert, bis die Regierung begriffen hat, welch sozialer und politischer Sprengstoff darin liegt. Ein ranghoher Mitarbeiter im Weißen Haus erzählte mir, dass er wochenlang in fast jeder Sitzung gebetsmühlenartig posaunt habe: „Liebe Leute, Inflation, Inflation, Inflation, sie kann uns bei der nächsten Wahl das Genick brechen.“
Im August lag die Inflation bei 5,3 Prozent, und sie wird gleich doppelt angetrieben: zum einen von der steigenden Nachfrage nach Konsumgütern, die wegen Materialknappheit, Lieferengpässen und zu wenig Personal nicht ausreichend bedient werden kann, zum anderen von rasant steigenden Preisen etwa für Öl, Gas, Baustoffe, Immobilien, Lebensmittel, Gesundheitsvorsorge und so weiter.
Stetig wachsende Alltagskosten sind für sämtliche Gesellschaften, für alle Menschen und die meisten Betriebe ein Problem, auch in Deutschland. Aber gerade in den Vereinigten Staaten haben sie oft unmittelbar verheerende Folgen: Vor allem Familien mit mittleren und kleinen Einkommen leben von Paycheck zu Paycheck, ihre Ausgaben sind bis zum letzten Dollar verplant, am Monatsende bleibt meist kein Cent übrig. Müssen sie nun mehr fürs Benzin, für den Liter Milch, die Miete, den Arzt oder ein Paar Schuhe aufbringen, wissen sie nicht, woher sie das Geld nehmen sollen. Immer mehr Menschen verlieren in der Not ihr Dach über dem Kopf.
Vor der Union Station, dem Zentralbahnhof in Washington gleich gegenüber dem Kapitol, vor dem Kennedy-Center, entlang des Rock Creek Parks, überall campieren Dutzende Menschen in Zelten oder notdürftig zusammengezimmerten Papphütten. Derart viele und große Obdachlosenstätten habe ich in Washington in früheren Jahren nicht vorgefunden. Und dabei soll die Lage in Los Angeles, Denver oder Portland, um nur einige Städte zu nennen, weit schlimmer sein. „Nomadland“ ist überall, der Präsident, seine Regierung, die Opposition, Demokraten und Republikaner im Kongress müssten nur einmal vor die Haustür treten.
Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA.
Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.
Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.