„Kooperationswille statt Egoismus“
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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck
In seinem exklusiven Gastbeitrag für die Atlantik-Brücke fordert Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, zugleich Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen für die Neuwahlen des Bundestages, dass Deutschland und Europa sicherheitspolitisch erwachsen werden und einen Angriff der USA auf ihre Wirtschaft abwehren sollten. Gleichzeitig gelte es, die normative Kraft des Westens neu zu begründen.
Von Robert Habeck, Bundeswirtschaftsminister und Vize-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland
Dass die große Mehrheit meiner Generation bereits 25 Jahre nach dem Krieg in Sicherheit, relativem Wohlstand und Freiheit aufwachsen durfte – zumindest in Westdeutschland –, war ein historisches Glück und nicht zuletzt das Verdienst der USA. Die Vereinigten Staaten hatten (West-)Deutschland in der Nachkriegszeit gelehrt, dass Demokratie als Grundbedingung für Freiheit nicht nur eine Frage der Staatsform ist, sondern im gesellschaftlichen Alltag aktiv gelebt werden muss: in den Bildungsinstitutionen, in Vereinen, in der Kultur. Für meine Generation war der „Westen“ als normative Idee bereits eine so stabile Brücke über den Atlantik, dass man auf ihr streiten und protestieren konnte, ohne sie dadurch zu gefährden.
Heute ist diese Stabilität gefährdet – von innen wie von außen. Alle denkbaren Konflikte und Risiken eskalieren scheinbar gleichzeitig und strapazieren die Grundlagen unseres Wohlstands, unserer Freiheit und unserer Sicherheit.
Viele schauen dieser Tage beunruhigt auf die Ereignisse in Washington. Auch wenn es schwerfällt: Es sollte uns darum gehen, möglichst nüchtern und konstruktiv unsere Interessen zu bestimmen. Der Reihe nach.
Die Kritik aus Washington, dass wir insbesondere in Westeuropa unsere Sicherheit zu lange auf die Schultern der USA abgeladen haben, ist berechtigt. Spätestens seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vor drei Jahren ist es Zeit, dass Europa sicherheitspolitisch erwachsen wird. Ich setze mich deshalb für 3,5 Prozent des BIP für Verteidigung als mittelfristiges Ziel ein – nicht als Infragestellung des transatlantischen Bündnisses, sondern als Beitrag zu seiner Stärkung.
Mit den Bedrohungen müssen auch unsere Fähigkeiten steigen, von der gemeinsamen Rüstungsindustrie bis zu einer europäischen Nachrichtendienstagentur. Europa muss sich als enger Partner anbieten und mehr Eigenverantwortung für Frieden und Sicherheit auf unserem Kontinent übernehmen. Gleichzeitig darf unsere Sicherheit nicht darüber gefährdet werden, dass Washington über die Köpfe Europas hinweg einseitig vor allem den russischen Forderungen entgegenkommt – dies würde uns gemeinsam schwächen. Zusätzlich müssen wir Europäer gegenüber der Regierung in den USA deutlich machen, dass wir Drohungen gegen die Integrität von Staaten nicht akzeptieren.
Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt. Geeint haben wir die Stärke, die es braucht, um in Verhandlungen eine Schwächung unserer Wirtschaft abzuwehren.
Mit Sorge schaue ich auf die Handelspolitik der neuen US-Administration. Ein Handelskrieg würde auf beiden Seiten Wohlstandsverluste bedeuten – für die europäische Wirtschaft wie für amerikanische Konsumenten. Nichtsdestotrotz müssen wir uns in Europa auf alle Szenarien vorbereiten, um einen Angriff auf unsere Wirtschaft abzuwehren, und bereit sein, im Zweifel Gegenzölle zu erheben. Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt. Geeint haben wir die Stärke, die es braucht, um in Verhandlungen eine Schwächung unserer Wirtschaft abzuwehren.
Insbesondere die deutsche Wirtschaft ist mit ihrer Exportorientierung auf eine starke europäische Verhandlungsposition angewiesen. Auch deshalb halte ich es für unerlässlich, eine konstruktive, verantwortungsbewusste und an den Realitäten unserer Zeit orientierte deutsche Europapolitik zu definieren und zu leben. Hier besteht in unserem ureigensten Interesse deutlich Luft nach oben.
Wir müssen zeigen, dass nicht Egoismus die Probleme löst, sondern Kooperationswille. Das gilt für Europa und es gilt für die Bekämpfung der globalen Großrisiken Klimawandel und Pandemien. Es ist mehr als bedauerlich, dass die USA aus der WHO und dem Pariser Klimaabkommen austreten oder USAID zurückfahren. Aber der große Erfolg der Erneuerbaren Energien in republikanischen Bundesstaaten wie Texas zum Beispiel zeigt, dass Klimaschutz inzwischen ein Geschäftsmodell und in der US-amerikanischen Gesellschaft längst angekommen ist.
Auch dorthin reichen Brücken über den Atlantik – und diese Verankerungen sind in disruptiven Zeiten besonders wichtig. Wir brauchen Brücken nicht nur zur Verständigung über unsere Interessen in den kommenden vier Jahren, sondern auch in die Zukunft. Der Umbruch in den USA ist ein Appell an uns selbst, die normative Kraft des Westens in unserem eigenen Interesse neu zu begründen und zu versuchen, sie mit unseren Partnern auf der anderen Seite des Atlantiks zu behaupten. Darin liegt unser Auftrag für die Verteidigung von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand.
Die Atlantik-Brücke hat vor der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 die Kanzlerkandidaten von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebeten, ihre transatlantische Agenda in einem Gastbeitrag aufzuschreiben. Die Texte sind bereits vor dem Wochenende der Münchner Sicherheitskonferenz und den Äußerungen von US-Vizepräsident J.D. Vance entstanden.
Den Gastbeitrag von Bundeskanzler Olaf Scholz lesen Sie hier.
Den Gastbeitrag des Unions-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz lesen Sie hier.