Interview

„Nord Stream 2 war ein Fehler. Und auf die Osteuropäer haben wir schlicht nicht gehört.“

Ein Interview mit dem Vorsitzenden der Atlantik-Brücke, Sigmar Gabriel

Die Atlantik-Brücke ist eine überparteiliche Vereinigung. Und obwohl Sigmar Gabriel heute ihr Vorsitzender ist, führt der Journalist Martin Klingst dieses Gespräch bewusst auch mit dem Sozialdemokraten Gabriel, dem früheren SPD-Chef, Wirtschafts- und Außenminister. 

Herr Gabriel, haben Sie Angst, Russlands Krieg gegen die Ukraine könnte einen Dritten Weltkrieg auslösen?

Sigmar Gabriel: Ich bin dagegen, Panik zu verbreiten, deswegen habe ich mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ Schwierigkeiten. Aber wovor man tatsächlich Sorge haben muss, ist die Möglichkeit, dass Russland bereit ist, Atomwaffen einzusetzen. Die Folgen wären zumindest für Europa eine Katastrophe und damit nicht weniger schlimm als ein Dritter Weltkrieg. Leider ist ein russischer Atomschlag eine realistische Gefahr.

Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, sein Amtseid verpflichte ihn, Schaden vom deutschen Volk zu wenden. Deshalb sei es seine vorrangige Aufgabe, eine Ausweitung der Kämpfe und einen Atomkrieg zu verhindern. Sehen Sie das auch so? 

Gabriel: Man kann sicher unterschiedlicher Meinung sein, ob die Art der Kommunikation der Bundesregierung immer die beste war. In der Sache hat der Bundeskanzler aus meiner Sicht zu Recht zweierlei gesagt: Zum einen will Deutschland die Ukraine so unterstützen, dass sie diesen Krieg gegen Russland nicht verliert. Zum anderen müssen wir aufpassen, dass dieser Krieg sich nicht ausweitet und daraus im Zweifel sogar ein nuklearer Schlagabtausch wird. Unterstützen und zugleich aufpassen – das ist objektiv schwierig, da bewegt man sich auf einem schmalen Grat. Aber die NATO, die Vereinigten Staaten und Großbritannien scheint die gleiche Sorge umzutreiben: Was müssen wir tun, damit Putin nicht der Gewinner ist, sondern sich die Ukraine erfolgreich verteidigt? Und wo müssen wir aufpassen, dass wir keinen Anlass für eine Kriegsausweitung bieten, weil dann nicht allein die Ukraine, sondern wir alle der Verlierer wären?

Besteht die Gefahr einer direkten Kriegsbeteiligung des Westens schon bei bestimmten Waffenlieferungen? Oder erst, wie einige Völkerrechtler behaupten, mit der Entsendung von NATO-Truppen?

Gabriel: Seien Sie mir nicht böse, aber was am Ende als Kriegsbeteiligung verstanden wird, entscheiden leider in der Realität nicht Völkerrechtler und nicht das Gesetzbuch, diese Entscheidung trifft allein Herr Putin. Die Weltgeschichte wird nicht vor einem Amtsgericht verhandelt. Ginge es nach dem internationalen Recht, dürfte es den ganzen Krieg gegen die Ukraine nicht geben.

Ist der Westen nicht schon mitten im Krieg, weil in der Ukraine auch die europäische Friedensordnung, weil dort auch unsere Freiheit und Demokratie verteidigt werden?

Gabriel: Wir Europäer sollten einen Angriff auf die Friedensordnung nicht erst dann als besonders schlimm wahrnehmen, wenn er in unserer Nachbarschaft geschieht, ansonsten aber mit den Achseln zucken, wenn er andere Länder betrifft. Es gibt einige Länder, die uns deshalb „doppelte Standards“ vorwerfen. Aber natürlich kämpft die Ukraine nicht nur für sich, sondern sie kämpft für die Minimalstandards des Völkerrechts. Und das heißt eben, dass man seine Nachbarn nicht einfach mit Panzern überfallen und mit Krieg überziehen darf. Das finde ich, reicht schon aus, um die Ukraine zu unterstützen.

Natürlich kämpft die Ukraine nicht nur für sich, sondern sie kämpft für die Minimalstandards des Völkerrechts.

Wir sollten uns davor hüten, den Krieg als Auseinandersetzung „des Westens gegen Russland“ zu bezeichnen. Denn nicht wenige in der Welt halten das dann für einen „Stellvertreterkrieg“ zwischen zwei alten Imperien, mit dem sie nichts zu tun haben wollen. Russlands Krieg geht aber alle etwas an. Denn wenn dieser Bruch des Völkerrechts Erfolg hätte, kann das schnell auch in anderen Teilen der Welt Schule machen. Die Ukraine kämpft deshalb nicht nur um die eigene Freiheit, sondern auch für den Erhalt der internationalen Ordnung.

Hilft Deutschland nicht zu zögerlich? Bundeskanzler Scholz scheint immer nur auf Druck zu reagieren.

Gabriel: Ich glaube, dass der deutsche Bundeskanzler sehr überlegt handelt. Und ich finde das in einer solchen Situation auch richtig. Natürlich hätte die Bundesregierung vielleicht schneller handeln und manches klarer kommunizieren können, die Darstellung Deutschlands war in den letzten Wochen nicht optimal, um es mal zurückhaltend auszudrücken. Eine bessere Verständigung und Abstimmung in der NATO und mit der Führungsmacht USA hätten uns manches erleichtert. Aber in der Sache ist mir eine abwägende Regierung lieber als hitzköpfiges Nach-vorne-Stürmen, denn wir reden über Krieg und leider auch über die Gefahr einer atomaren Eskalation.

Viele Politiker haben Wladimir Putin in die Augen geschaut. Für US-Präsident George W. Bush war er ein vertrauenswürdiger Mensch mit einer Seele, für Joe Biden hingegen seelenlos. Bundeskanzler Gerhard Schröder bezeichnete Putin als lupenreinen Demokraten. Was haben Sie als Wirtschafts- und Außenminister, als Vize-Kanzler und SPD-Chef bei Ihren Treffen mit Putin in seinen Augen gesehen?

Gabriel: Ich kann jedenfalls den Menschen, den ich heute sehe, und sein Handeln nicht in Verbindung bringen mit der Person, die ich vor fünf, sechs Jahren das letzte Mal getroffen habe. Das kann aber an mir liegen. Das kann einfach daran liegen, dass ich ihn nicht durchschaut habe. Es gibt andere, die sagen, er habe sich in den letzten Jahren radikalisiert.

Allerdings habe ich Putin einmal gefragt, wie er eigentlich mit so einem Verbrecher wie Baschar al-Assad in Syrien gemeinsame Sache machen könne. Die Antwort darauf kam mir schon damals ziemlich bizarr vor. Die lautete nämlich: Wenn man einen Krieg gewinnen will, dann muss man das mit allen Mitteln tun. Putin meinte damals den Krieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, und in diesem Kampf war ihm jeder Verbündete recht. Im Kern heißt das ja: Der Zweck heiligt alle Mittel. Und spätestens da gefriert einem doch das Blut in den Adern, wenn zur Durchsetzung der eigenen Politik jedes Mittel zulässig ist.

Gab sich der wahre Putin nicht schon sehr früh zu erkennen? Bereits aus seiner Rede 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz ließ sich heraushören, dass er den Zerfall der Sowjetunion nicht verwunden hat und die Geschichte zurückdrehen will. Hätte man damals nicht schon gewarnt sein müssen?

Gabriel: Das sagt jedenfalls Botschafter Wolfgang Ischinger, der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz. Ischinger meint, wir hätten Putins Rede damals nicht ernst genug genommen. Da ich nicht dabei war, kann ich das nicht beurteilen. Aber es deutet vieles darauf hin, dass wir in der Zeit ab 2007 die Ambitionen des russischen Präsidenten unterschätzt haben, oder besser gesagt, unsere Erfahrungen im Umgang mit der Sowjetunion und mit Russland überschätzten.

Ich glaube, das ist vielleicht sogar das Kernproblem der deutschen Politik, auch der deutschen Sozialdemokratie: dass wir gedacht haben, wir hätten die Formel für die richtige Ostpolitik gefunden.

Welche Formel?

Gabriel: Wie man erfolgreich mit einem solchen autoritären Staat namens Russland umgeht.

Worauf gründete diese Annahme?

Gabriel: Wir hatten ja eine durchaus erfolgreiche Ostpolitik: Wir söhnten uns nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs mit der Sowjetunion und Polen aus, Gorbatschow kam an die Macht, Deutschland wurde wiedervereinigt, die Sowjetunion und der Warschauer Pakt gingen unter. Irgendwie hatten wir das Gefühl: Wir als Deutsche wissen, wie das geht mit Moskau.

Im Übrigen war auch Deutschlands mehrheitliche Haltung hinsichtlich der Osteuropäer ziemlich arrogant.

Das war allerdings überheblich. Im Übrigen war auch Deutschlands mehrheitliche Haltung hinsichtlich der Osteuropäer ziemlich arrogant. Ihnen gegenüber entwickelten wir nach dem Fall der Mauer ein reichlich paternalistisches Verhältnis nach dem Motto: „Wir verstehen, dass ihr Russland mit anderen Augen seht, schließlich habt ihr lange unter der Kremlherrschaft gelitten. Aber wir Deutsche wissen es eigentlich besser“. Wir glaubten wirklich, wir hätten die Weltformel für eine erfolgreiche Ostpolitik gefunden. Das war sicher das Kernproblem.

Ist die Losung „Wandel durch Handel“ gescheitert?

Gabriel: Das war nicht das erste Motto der Entspannungspolitik. „Wandel durch Handel“ ist, wenn man so will, eigentlich eine Pervertierung des ursprünglichen Gedankens. Es fing an in den 60er und 70er Jahren unter dem SPD-Bundeskanzler Willy Brandt und seinem außenpolitischen Berater Egon Bahr mit der Formel: „Wandel durch Annäherung“. Das bedeutete: Wir Westdeutsche akzeptieren die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs und die „Oder-Neiße-Linie“ – vorbehaltlich einer Änderung im Rahmen einer endgültigen Friedensregelung – als unverletzliche Westgrenze Polens. Ihr Osteuropäer, vor allem ihr Russen, akzeptiert dafür die KSZE-Schlussakte von Helsinki und damit die Achtung der Menschenrechte, friedliche Konfliktlösungen und die Unverletzlichkeit der Grenzen.

Erst später wurde daraus das Motto „Wandel durch Handel“. Es folgte der Idee: Je intensiver wir die deutsche und die sowjetische, beziehungsweise die russische Wirtschaft miteinander verknüpfen, desto sicherer werden Stabilität und Frieden in Europa. Doch dann kam mit Wladimir Putin jemand, der sich für wirtschaftlichen Erfolg überhaupt nicht interessiert, der in einer ganz anderen Währung zahlt, nämlich in der Währung Macht. Das hielten wir Deutsche bis zum Ukraine-Krieg, wenn wir ehrlich sind, weitgehend für undenkbar. Unsere gesamte ökonomische und soziale Erfolgsgeschichte als Bundesrepublik ist die Geschichte einer ungeheuer erfolgreichen wirtschaftlichen Integration und der Überzeugung: Je enger Ökonomien miteinander verflochten werden, desto sicherer ist die Welt. Aber das war ganz offensichtlich eine grobe Fehleinschätzung.

Wie konnte man nach zwei grausamen Tschetschenienkriegen, dem Krieg in Georgien, der Annexion der Krim, dem Krieg in der Ostukraine und Russlands Militärintervention in Syrien immer noch glauben, Putin ließe sich durch wirtschaftliche Verflechtungen einhegen?

Gabriel: Nicht nur wir Deutsche, sondern auch der allergrößte Teil der Westeuropäer und auch die USA dachten, dass wir zu Russland doch irgendwie ein stabiles Verhältnis entwickeln könnten. US-Präsident Joe Biden traf sich mit Wladimir Putin Mitte 2021 noch in Genf und meinte, die USA und Russland könnten stabile und verlässliche Beziehungen aufbauen und über Abrüstung verhandeln.

Wir Deutsche haben, wenn auch fälschlich, stets gehofft, dass Russland uns braucht und Zugeständnisse macht, weil es sonst ökonomisch nicht überleben kann.

Und natürlich haben wir Deutsche, wenn auch fälschlich, stets gehofft, dass Russland uns braucht und Zugeständnisse macht, weil es sonst ökonomisch nicht überleben kann. Und lange Zeit schien das auch zu wirken. Aber ich muss zugeben, dass mich zum Beispiel mein polnischer Freund Janusz Reiter, der frühere Botschafter seines Landes in Berlin und Washington, immer davor gewarnt hat, dass Putin einer ganz anderen Logik folgen würde und dass ihm die wirtschaftliche und soziale Lage seines Landes völlig egal sei.

Hätten nicht spätestens bei der Annexion der Krim alle Warnlampen anspringen müssen?

2014, als Russland die Krim besetzte und den Krieg in der Ostukraine anzettelte, konnten die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande immerhin gemeinsam die Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine verhindern.

Der damalige ukrainische Präsident Poroschenko rief die Kanzlerin an und bat sie inständig um Verhandlungshilfe, weil die Ukraine im Osten des Landes kurz vor einer militärischen Niederlage stand. Zumindest konnte der Konflikt eingedämmt werden, dank des gelungenen Engagements der Europäer. Hätte es all diese Bemühungen nicht gegeben, wäre der große Krieg Russlands gegen die Ukraine vermutlich schon damals ausgebrochen.

Warum hat die Bundesregierung selbst nach der Annexion der Krim mit dem Bau von Nord Stream 2 weitergemacht, einer Gaspipeline, die unter Umgehung Osteuropas direkt von Russland durch die Ostsee nach Deutschland führt? Warum haben Sie als Wirtschafts- und Energieminister diese Entscheidung mit vorangetrieben und uns damit in noch größere Energieabhängigkeit von Russland gebracht?

Gabriel: Genehmigt und begonnen wurde das Projekt bereits 2005. Nach 2014, nach der Annexion der Krim, hat es die deutsche Bundesregierung nicht gestoppt, weil wir ja gerade mit Russland in Minsk Waffenstillstandsverhandlungen hinsichtlich der Ukraine führten. Kanzlerin Merkel wollte von Russland das Zugeständnis, den Krieg im Donbass zu beenden. In dieser Lage Putin zu sagen: „Wir wollen, dass du nachgibst und dem Waffenstillstand zustimmst, aber Dein ehrgeizigstes Energieprojekt, die Pipeline Nord Stream 2, kippen wir trotzdem“, wäre vermutlich keine besonders kluge Verhandlungstaktik gewesen.

Heute wissen wir: Nord Stream 2 war ein Fehler. Denn die Pipeline war Wladimir Putin letztlich egal. Ich bin sicher, dass er einkalkuliert hat, dass mit dem Krieg gegen die Ukraine dieses Projekt endgültig im Aus landen würde. Interessant ist allerdings, dass ein wichtiges Verhandlungsergebnis der Jahre 2014/2015 bis heute funktioniert: Auch die Ukraine wurde damals natürlich mit russischem Erdgas versorgt, das durch die nach Europa führende transukrainische Pipeline fließt. Es bestand aber stets die Gefahr, dass Russland der ungeliebten Regierung in Kiew den Gashahn zudrehen würde, vor allem mit Einbruch des Winters. Um das zu verhindern, vereinbarten wir mit Russland, dass die Ukraine das Gas nicht direkt von Russland, sondern von der EU kauft. Das heißt: Sobald das Gas in der EU ankommt, wird die von der Ukraine benötigte Menge zurück in die  Ukraine geleitet. Das funktioniert übrigens bis heute, mitten im Krieg. Und zu diesem damals verhandelten Paket gehörte auch der dauerhafte Erhalt des Gastransports durch die Ukraine selbst dann, wenn Nord Stream 2 fertiggestellt worden wäre. Es gab also durchaus politische Vorbedingungen der deutschen Bundesregierung für Nord Stream 2.

Die Balten, die Polen, die Amerikaner, aber auch viele Ukrainer sahen in Nord Stream 2 allerdings ein Instrument russischer Machtausdehnung und warnten schon früh vor den geopolitischen Konsequenzen. Warum haben wir nicht auf sie gehört?

Gabriel: Ich kann das nur wiederholen: Wir glaubten, dass sich Russland in der Energieversorgung ebenso verlässlich verhalten würde wie die alte Sowjetunion. Schließlich war die alte Sowjetunion in der gesamten Zeit des Kalten Krieges ein verlässlicher Lieferant. Auch die USA kauften ja bis zum Beginn des Krieges gegen die Ukraine russisches Schweröl.  Diese Erfahrung wurde einfach bruchlos auf Russland und Putin übertragen. Das war eine Fehlkalkulation.

Und auf die Osteuropäer haben wir schlicht nicht gehört. Erstens weil wir dachten, wir wissen es besser, zweitens weil die Liberalisierung des europäischen Energiemarkts dazu führte, dass der Staat sich gar nicht mehr in der Verantwortung für die Energiesicherheit fühlte; das sollten seit 2002 ja die Unternehmen selbst tun. Seit der Entscheidung der EU zur Liberalisierung der Energiemärkte 2002, was letztlich nur ein anderes Wort für Privatisierung war, wurde die Aufgabe der Versorgungssicherheit vom Staat auf „die Märkte“ übertragen, weil sie effizienter und preiswerter wirtschaften würden – so die Annahme. Und diese „Märkte“ – privatisierte Unternehmen – kauften natürlich lieber das preiswerte russische Pipelinegas als das teurere Flüssiggas. Deshalb wurden ja die LNG-Terminals in Europa immer nur teilweise genutzt.

Gleichwohl haben sich deutsche Minister, auch Sie, immer wieder mit Vertretern der Gaspipeline-Betreiber getroffen und den Bau weiterverfolgt. So ganz war das Projekt der Politik offenbar nicht entzogen?

Gabriel: Nein, natürlich nicht. Schließlich mussten wir als Regierung die Verhandlungen über die Frage, ob Russland den Gastransit durch die Ukraine stoppen wird, mit dem russischen Gazprom-Konzern und der russischen Regierung weiterführen. Wegen dieser Sorge hat übrigens auch die EU-Kommission mit Gazprom verhandelt und uns Deutsche immer wieder um Unterstützung bei diesen Verhandlungen gebeten. Und es ging dabei nicht nur um die Ukraine, sondern ebenso um die Gasversorgung der Slowakei, Bulgariens und anderer Länder.

Wie konnten da führende deutsche Politiker, gerade auch in der SPD, bis vor Kurzem immer noch behaupten, Nord Stream 2 sei ein rein ökonomisches Projekt ohne geopolitische Auswirkungen?

Gabriel: Das Zitat werden Sie von mir nicht finden, denn ich fand diese Beschreibung schon damals falsch. Schon die Tatsache, dass wir politische Vorbedingungen für die transukrainische Pipeline formuliert haben, zeigt doch, dass es bei Nord Stream 2 um mehr ging als um ein rein wirtschaftliches Projekt.

Schon die Tatsache, dass wir politische Vorbedingungen für die transukrainische Pipeline formuliert haben, zeigt doch, dass es bei Nord Stream 2 um mehr ging als um ein rein wirtschaftliches Projekt.

Als Wirtschafts- und Energieminister haben Sie dem Verkauf des größten deutschen Gasspeichers an den russischen Konzern Rosneft zugestimmt. Sahen Sie darin keine Gefährdung nationaler deutscher Interessen?

Gabriel: Nein, ich muss zugeben, dass ich das damals nicht so sah. Auch ich war der Überzeugung, dass es im deutschen Interesse war, deutschen Unternehmen Eigentumsrechte an russischen Erdgasfeldern zu ermöglichen. Es waren ja Geschäfte, bei denen Erdgasrechte deutscher Unternehmen gegen Infrastruktur von Gazprom getauscht wurden. Und die deutschen Unternehmen baten uns, ihnen dabei zu helfen.

Aber es gab auch in Deutschland große Bedenken gegen diesen Verkauf und den Bau von Nord Stream 2.

Gabriel: Ja, insbesondere bei den Grünen auch aus ökologischen Gründen. Aber ebenso in der CDU waren einige dagegen, zum Beispiel Norbert Röttgen, der heute in der Atlantik-Brücke mein Stellvertreter ist. Aber die ganz überwiegende Mehrheit im Bundestag und in den verschiedenen Bundesregierungen zwischen 2005 und 2021 setzte auf preiswertes russisches Erdöl und Erdgas.

Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht heute in deutschen Gasspeichern, die einem russischen Konzern gehören, ein Sicherheitsrisiko. Sie inzwischen auch?

Gabriel: Ja, sicher. Er kann das allerdings schnell ändern. Schwieriger ist es, in kurzer Zeit das russische Erdgas durch andere Lieferanten zu ersetzen. Aber auch das wird gelingen – allerdings zu einem höheren Preis. Den müssen wir bereit sein zu zahlen

Trägt Ihre Partei, tragen Sozialdemokraten nicht eine besondere Verantwortung für die Fehleinschätzungen gegenüber Russland?

Gabriel: Ich finde es eigentlich gar nicht so schlimm, dass jetzt viel über die Erfolge und Misserfolge sozialdemokratischer Russlandpolitik diskutiert wird. Wenn man etwas genauer hinsieht, dann steht diese Diskussion ja stellvertretend für das, was insgesamt in Deutschland geschehen muss. Denn das Zeitalter der Entspannungspolitik hat ja das ganze Land geprägt.  Deutschlands fester Glaube an die integrativen Kräfte wirtschaftlicher Zusammenarbeit hat ja auch sein ökonomisches Erfolgsmodell und das Denken in den Unternehmen und der Zivilgesellschaft geprägt.

Ich finde es eigentlich gar nicht so schlimm, dass jetzt viel über die Erfolge und Misserfolge sozialdemokratischer Russlandpolitik diskutiert wird.

Wir leben jetzt in einem neuen und vermutlich sehr unbequemen Zeitalter. Die alte globale Ordnung und die Pax Americana sind Vergangenheit, aber eine neue Weltordnung noch nicht erkennbar. Nicht immer gleich Krieg, aber Unsicherheiten, unvorhersehbare Dynamiken und Instabilitäten werden vermutlich mindestens das nächste Jahrzehnt prägen. Sich darauf neu einzustellen, das Richtige aus der Vergangenheit vom Fehlerhaften zu trennen, ist vielleicht die wichtigste Aufgabe, um sich in dieser unübersichtlichen Welt zusammen mit Partnern wie den USA behaupten zu können. Und wenn die SPD damit anfängt, dann ist das eher ein Vorteil für sie.

Warum?

Gabriel: Ich bin gewiss: Andere werden folgen, denn die Sozialdemokraten haben ja in den letzten Jahrzehnten nur zum geringeren Teil die Regierungen angeführt. Und nicht zuletzt ist der Blick auf Russland für viele auch eine Generationenfrage. In den vergangenen Jahren war die Kritik an Russland in der jüngeren Generation wegen der wachsenden Illiberalität des Landes immer größer geworden. Für viele Ältere prägten die Verbrechen der Nazis in Russland und das Erleben der erfolgreichen Ost- und Entspannungspolitik ihren Blick auf die deutsche Russlandpolitik. Dabei wurde oft übersehen, dass Polen, Ukrainer, die Menschen im Baltikum oder in Weißrussland genauso unter dem Völkermord der Nazis gelitten haben wie die Russen. Auch diese unterschiedlichen Generationserfahrungen müssen auf den Tisch. Wenn die SPD damit anfängt, umso besser.

Für die SPD scheint mir etwas anderes von besonderer Bedeutung zu sein. Sie muss sich kritisch fragen, ob ihr eigenes Narrativ von der Ost- und Entspannungspolitik eigentlich stimmt.

Welches Narrativ?

Gabriel: Innerhalb der SPD und wohl auch darüber hinaus gibt es die Wahrnehmung, als habe es „die“ Entspannungs- und Ostpolitik gegeben. In Wahrheit gab es zwei Phasen, die sehr unterschiedlich verliefen.

Die erste Phase, jene unter dem SPD-Kanzler Willy Brandt, war äußerst erfolgreich. Brandt hat allerdings zugleich stets klar gemacht, dass Westdeutschland, die Bundesrepublik, unverrückbar zur NATO steht. Der Brandt‘schen Entspannungspolitik der 70er Jahre ging 1960 eine große Rede des SPD-Abgeordneten Herbert Wehner voraus, in der er erklärte, dass die ablehnende Position der SPD hinsichtlich der Westbindung der Bundesrepublik falsch war. Viele Sozialdemokraten waren damals der Überzeugung, Westbindung und NATO-Mitgliedschaft würden die deutsche Teilung auf Dauer zementieren. Wehner räumte damit auf und erklärte die Westbindung und NATO-Mitgliedschaft Westdeutschlands zu einem Pfeiler sozialdemokratischer Außenpolitik. Das war eine historische Wende innerhalb der SPD, die nicht zufällig direkt nach dem großen Reformparteitag in Bad Godesberg 1959 stattgefunden hat.

Nur mit der klaren Verankerung Westdeutschlands im NATO-Bündnis war Brandt später überhaupt in der Lage, mit dem sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew zu verhandeln und die erste Phase der Entspannungspolitik einzuläuten. Andernfalls wären der Kanzler und Westdeutschland zum Spielball von Breschnews Interessen geworden.

Und die zweite Phase?

Gabriel: Sie steht vor allem in Osteuropa schon länger in der Kritik. Als ich in meiner Zeit als SPD-Vorsitzender mal versucht habe, diese zweite Phase anlässlich des 40. Jahrestages der Unterzeichnung der Warschauer Verträge kritisch zu beleuchten, war das aber für viele noch eine Art „Hochverrat“ an der Ostpolitik. Diese zweite Phase konzentrierte sich in erster Linie darauf, für Stabilität im Ost-West-Verhältnis zu sorgen. Das ging sogar so weit, dass sich SPD-Vertreter nur ungern mit den überall in Osteuropa entstehenden Bürgerrechtsbewegungen trafen, zu denen auch die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność gehörte. Sie scheuten zu enge Kontakte mit Menschen, die die bestehenden Verhältnisse in Osteuropa in Frage stellten, obwohl sich gerade diese Bürgerrechtsgruppen auf das positive Ergebnis der ersten Phase der SPD-Ostpolitik beriefen, nämlich den Menschenrechtskorb in der Schlussakte von der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 in Helsinki.

 Was fürchteten diese Sozialdemokraten?

Gabriel: Sie hatten Angst, dass diese Bürgerrechtler im Ostblock Instabilität verursachen

und die kommunistischen Regime das erneut mit militärischer Gewalt unterdrücken würden. Ost-Berlin 1953, Ungarn 1956 und Prag 1968 hatten ja gezeigt, dass notfalls Panzer rollten, um Proteste zu unterdrücken. Damit verband sich für führende Sozialdemokraten jeder Zeit die Angst vor weiteren militärischen Eskalationen auch mit dem Westen. Es ging nicht mehr um „Wandel durch Annäherung“, sondern nur noch um „Stabilität“. Politik wurde von oben gedacht und nicht zugleich von unten. Die Unterschätzung der Kraft von Zivilgesellschaften war das Kernproblem dieser zweiten Phase der Entspannungspolitik.

Verhandeln muss man immer, auch mit Russland, aber man sollte dies aus einer Position der Stärke tun.

Welche Lehren sollte die SPD daraus ziehen?

Gabriel: Eine Lehre aus der ersten Phase der Entspannungspolitik ist, dass nicht Appeasement, sondern militärische und politische Stärke Voraussetzung für den Verhandlungserfolg waren. Verhandeln muss man immer, auch mit Russland, aber man sollte dies aus einer Position der Stärke tun. So sah das auch der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt. Anfang der 80er Jahre wollte er die Nachrüstung, den sogenannten NATO-Doppelbeschluss durchsetzen, denn mit Sorge sah er Russlands atomare Aufrüstung. Doch das hat die SPD damals nicht mitgemacht und verweigerte Schmidt die Gefolgschaft.

Aber auch Schmidt setzte auf Stabilität und hegte keine sonderlichen Sympathien für die Soldinarność.

Gabriel: Einer vermeintlichen Stabilität in Europa alles andere unterzuordnen war sicher ein Fehler. Aber man darf nicht vergessen, dass es eine Zeit war, in der überall auf der Welt die Sorge vor einem großen und atomaren Krieg zwischen dem Westen und der UdSSR im Mittelpunkt stand. Das ist keine Entschuldigung, aber eine Erklärung für manche der damaligen Entscheidungen.

Sind die Gazprom-Geschäfte des ehemaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder und seine Verteidigung Putins nicht geradezu ein Inbegriff der falschen Russlandpolitik? Was dachten Sie, als er jüngst in einem Interview mit der New York Times Putin in Schutz nahm und den Satz sagte: „Mea culpa ist nicht mein Ding“?

Gabriel: Dass er das Interview besser nicht geführt hätte. Aber das Problem ist nicht dieser Satz, sondern seine Entscheidung, sich nicht öffentlich von Wladimir Putin zu distanzieren. Ich empfinde das alles als eine menschliche und politische Tragödie.

Man muss trotzdem aufpassen, ihn nicht zum Sündenbock für alles zu machen, um sich selbst zu entlasten. Der alttestamentarische Sündenbock ist ja das Tier, dem symbolisch alle eigenen Sünden aufgebunden werden und der dann in die Wüste geschickt wird, um so die eigenen Sünden loszuwerden und sich erneut mit Gott zu versöhnen. Über Schröders Schuld und Verantwortung, die er unzweifelhaft selbst zu tragen hat, sollte man nicht die eigenen Sünden vergessen und so tun, als hätte der Rest der Republik mit der fehlgeleiteten Russlandpolitik nichts zu tun gehabt.

Es ist doch offensichtlich, dass die Fortsetzung von Nord Stream 2 ein Fehler war.

Haben auch Sie gefehlt? Und wenn ja, tut es Ihnen heute leid?

Gabriel: Ja, es ist doch offensichtlich, dass die Fortsetzung von Nord Stream 2 ein Fehler war. Ich finde, Politiker müssen sagen, wo sie persönlich Verantwortung übernehmen. Dazu gehört, sich öffentlich mit den Entscheidungen auseinanderzusetzen, an denen man beteiligt war. Darum bemühe ich mich und hoffe, dass es mir in ausreichendem Maße gelingt. Dass auch ich mit dem Wissen von heute damals anders gehandelt hätte, ist doch selbstverständlich. Viel schwieriger ist doch die Antwort auf die Frage, warum wir nicht bereits damals das sahen oder sehen wollten, was uns andere ja durchaus vor Augen geführt haben. Und natürlich beschäftigt mich diese Frage sehr. Da hilft es nicht darauf zu verweisen, dass die Pipeline schon acht Jahre in Planung und Bau war, als ich 2013 dafür zuständig wurde. Das klingt immer nur nach Verantwortung abschieben. Ich kann das innerlich jedenfalls nicht abhaken.

Wenn der Krieg in der Ukraine irgendwann einmal vorbei ist, wird Russland bleiben, vielleicht auch Wladimir Putin. Wie kann, wie muss eine neue Ostpolitik dann aussehen?

Gabriel: Solange Putin im Amt ist, werden wir sicher alle Sanktionen aufrechterhalten. Wir werden einen neuen Eisernen Vorhang zwischen Ostsee und Schwarzem Meer haben und werden uns, was bislang nicht der Fall war, an dieser Grenze hochbewaffnet direkt gegenüberstehen.

Ich glaube, dass Russland nach diesem Krieg ein Schatten seiner selbst sein wird.

Ich glaube, dass Russland nach diesem Krieg ein Schatten seiner selbst sein wird. Und ich hoffe, dass mit der Zeit eine andere russische Führung entsteht. Das wird allerdings kaum in Putins unmittelbarer Nachfolge geschehen, dafür gibt es in Russland – und nicht nur bei Putin – immer noch zu tief verankerte antiwestliche Überzeugungen. Für viele ist der Westen dekadent und nach wie vor Russlands Erzfeind. Ein Wandel wird Zeit brauchen.

Werden sich unsere künftigen Beziehungen zu Russland, weil wir uns wirtschaftlich und energiepolitisch abgekoppelt haben, allein um die Sicherheitspolitik drehen?

Gabriel: Russland wird nach diesem Krieg nicht Nordkorea sein. Dafür ist das Land zu groß, dafür besitzt es zu viele Rohstoffe, dafür ist es militärisch zu wichtig und bleibt deshalb für viele Staaten auf der Welt leider ein Partner. Von den 141 Staaten, die in der UN-Vollversammlung Russlands Krieg verurteilt haben, beteiligen sich nur rund 30 an Sanktionen gegen Russland.

Niemand kann uns heute sagen, ob der nächste amerikanische Präsident 2024 noch immer fest an der Seite Europas stehen wird oder ob er uns nicht sagt: Eure Probleme gehen mich nichts an.

Aber Russland wird technologisch und ökonomisch weitgehend von uns entkoppelt sein. Und dann bleibt in der Tat am Ende vor allem die sicherheitspolitische Frage. Und da ist die einzige Antwort, die wir geben können: Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit so kräftig wie möglich ausbauen – und wir müssen europäisch stärker werden. Denn niemand kann uns heute sagen, ob der nächste amerikanische Präsident 2024 noch immer fest an der Seite Europas stehen wird oder ob er uns nicht sagt: Eure Probleme gehen mich nichts an.

Führt uns dieser Krieg nicht gerade die Bedeutung der transatlantischen Partnerschaft vor Augen?

Gabriel: Mich müssen Sie nicht davon überzeugen. Ich habe 2018 ein Buch geschrieben, das den schönen Titel trägt: „Zeitenwende in der Weltpolitik“. Zeitenwende ist ja jetzt ein modernes und beliebtes Wort geworden. In diesem Buch beschäftige ich mich mit der Frage unseres westlichen Bündnisses. Es gab ja Stimmen, die dafür plädierten, den nuklearen Schutzschirm der NATO zu verlassen. Es gab einen französischen Präsidenten, der die NATO für hirntot erklärte. Und es gab einen amerikanischen Präsidenten, der sagte, er sei sich nicht sicher, ob wir die NATO wirklich noch bräuchten. Putin hat es mit seinem Krieg nun geschafft, die NATO so sehr zu einen wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr.

Das eigentliche Problem besteht meines Erachtens darum nicht mehr in der Frage, ob die NATO und die transatlantische Allianz gebraucht werden. Diese Debatte ist mit dem Einmarsch in der Ukraine zunächst einmal vorbei. Wir können aber nicht sicher sein, ob sich die Abwendung von Europa unter dem nächsten amerikanischen Präsidenten nicht wiederholt.

Diese Aufgabe, Osteuropa verteidigungsfähig zu halten, übernehmen bislang nur die USA. Ich glaube, es würde dem Zusammenhalt Europas und den transatlantischen Beziehungen guttun, wenn Deutschland sich dieser Aufgabe widmen würde.

Und wie sollte sich Europa darauf vorbereiten?

Gabriel: Die einzige Antwort darauf kann nur sein, den europäischen Pfeiler innerhalb der NATO – und nicht außerhalb des Bündnisses – so stark wie möglich zu machen. Ich habe 2018 gemeinsam mit meinem polnischen Freund Janusz Reiter den Vorschlag gemacht, das Zwei-Prozent-Ziel für unseren Wehretat folgendermaßen aufzuteilen: in 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Bundeswehr, die übrigen 0,5 Prozent sollte Deutschland in einen Verteidigungsfonds der NATO für Osteuropa zahlen. Diese Aufgabe, Osteuropa verteidigungsfähig zu halten, übernehmen bislang nur die USA. Ich glaube, es würde dem Zusammenhalt Europas und den transatlantischen Beziehungen guttun, wenn Deutschland sich dieser Aufgabe widmen würde – und zwar mit unserem Geld und nicht nur mit den Steuer-Dollars der USA.

 

 

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