„Deutschland und Europa müssen sich jetzt weit stärker mit ihrer eigenen Zukunft auseinandersetzen.“
Pressemitteilung der Atlantik-Brücke zum Ausgang der 47. Präsidentschaftswahlen in den USA.
Von Sigmar Gabriel, Vorsitzender der Atlantik-Brücke
Zusammenfassung:
- Die kommenden fünf Jahre sind entscheidend für die Zukunft Europas – entweder wir schaffen einen Neustart zur strategischen Souveränität – oder wir provinzialisieren weiter.
- Der Krieg Russlands gegen die Ukraine droht mit der Formel „Land gegen Frieden“ die Interessen Russlands zu bedienen und die Ukrainer zum Verlierer zu machen. Europas gemeinsame Haltung müsste dagegen das Konzept „Sicherheit gegen Frieden“ formulieren, das auch die USA dazu bewegen muss, Teil der Sicherheitsgarantien für die Ukraine zu werden.
- Da sich die USA weiter stärker nach innen wenden werden und eine weitere Verschärfung innenpolitischer Konflikte wahrscheinlich ist, beschleunigt sich der Wandel in der US-Außenpolitik: noch stärkerer Rückzug aus der Rolle einer globalen Ordnungsmacht, die stärkere Bilateralisierung internationaler Beziehungen und der Bedeutungsverlust internationaler Institutionen und Verträge. Vor allem China bleibt systematischer Rivale, so dass auf die US-Bündnispartner in Europa stärkere Anforderungen in der Sicherheitspolitik und in der Auseinandersetzung mit China zukommen.
- Deutschland und Europa müssen sich von ihrer Fixiertheit auf die jeweiligen Präsidentschaftsinhaber der USA lösen und sich weit stärker mit ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit auseinandersetzen. Dabei kommt der Stärkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Vertiefung des Binnenmarktes und der Attraktivität als Investitionsstandort und Handelspartner mindestens eine so große Bedeutung zu wie der Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit und der Stärkung der europäischen Säule gemeinsam mit Großbritannien innerhalb der NATO. Dies verlangt insbesondere von der größten Nation Europas, Deutschland, einen „Pivot to Europe“: Deutschland muss sich wie zu Zeiten von Bundeskanzler Helmut Kohl offensiv in den Dienst der Europäischen Union stellen. Dazu muss es verlorenes Vertrauen wieder z.B. in der Zusammenarbeit mit Frankreich zurückgewinnen, um Europa wieder ein politisches Zentrum zu geben.
Donald Trump hat die Präsidentschaftswahlen gewonnen.
Nun ist für viele auch die Hoffnung gestorben. Die Amerikaner haben Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt. Das Schreckgespenst, das die Welt seit 2016 in Atem hält, hat wieder sein Schloss bezogen. Was Deutschland jetzt tun muss.
Klar ist: die 47. Präsidentschaft wird die Welt in Atem halten. Wir wissen heute, so kurz nach der Wahl nicht, wie tief die Enttäuschung bei den Anhängern der unterlegenen Kandidatin, Vizepräsidentin Kamala Harris, sitzt. Es ist aus der Distanz schwer einzuschätzen, wie groß das Risiko ist, dass in Teilen der Anhängerschaft der Demokraten Enttäuschung in Wut und Gewalt umschlagen. Dabei hilft die Ankündigung Donald Trump’s „auf die Jagd“ nach seinem „inneren Feind“ zu gehen ebenso wenig wie seine Charakterisierung als Neo-Faschist. Die USA ist in Gefahr zu einem zweiten „McCarthy Staat“ zu werden.
Statt aber nun in Deutschland wie das Kaninchen auf die Schlange zu blicken und zu erstarren, sollten Deutschland und Europa ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Dazu müssen wir verstehen, dass sich durch die Wahl von Donald Trump nichts von den grundlegenden Fragen an die deutsch-amerikanischen und die transatlantischen Beziehungen geändert hat: USA sind seit langem nicht mehr bereit, einen übergroßen Anteil der Kosten für die Sicherheit Europas zu übernehmen. Sie wollen sich überdies aus Europa (und eigentlich auch aus dem Nahen Osten) zurückziehen, um ihre Ressourcen in die Auseinandersetzung im Indopazifik zu konzentrieren. Zur Auseinandersetzung mit China gehört auch, dass den USA die engen wirtschaftlichen Verflechtungen Chinas mit Europa ein Dorn im Auge sind. Die Debatte um die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen könnte zu einer neuen „Nord-Stream-II“ Auseinandersetzung mit den USA werden.
Donald Trump wird keine Zeit verlieren, diese Themen wieder drastisch auf die Tagesordnung zu bringen. Er startet wesentlich besser in seine zweite Amtszeit als bei seiner ersten Wahl zum US-Präsidenten.
Seine Wahl zwingt Deutschland und Europa nun, die Beziehungen zwischen den USA und Europa auf ein neues Fundament zu stellen. Dabei wird es darauf ankommen, über Trump hinauszudenken – denn die USA bleiben auf Sicht unverzichtbarer Partner Europas und Deutschlands. Ohne eine transatlantische Perspektive droht Europa zu provinzialisieren. Voraussetzung dafür aber ist, dass Deutschland sich wieder auf Europa und das europäische Projekt besinnt.
Deutschland braucht einen „Pivot to Europe“!
Es bedarf einer Vorstellung darüber, wie dem nachvollziehbaren Wunsch der Amerikaner, weniger Lasten für die Verteidigung Europas tragen zu müssen, ohne ein grundlegendes Zerwürfnis innerhalb Europas und mit den Amerikanern hervorzurufen, entsprochen werden kann. Deutschland darf dabei nicht immer wieder mit seiner Begeisterung für Wachtmeisterprobleme als Bremsklotz dienen, sich hinter abstrakten Zahlungen oder Verpflichtungsbekenntnissen verstecken, sondern muss Treiber und Initiator für diese Neuausrichtung der euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur sein.
Gewiss, nicht allein!
Dazu bedarf es jedoch den Mut und das diplomatische Geschick zur Formulierung einer neuen, europäischen Dimension der transatlantischen Kooperation. Es bedarf der Fähigkeit politische und persönliche Bande zu knüpfen und zusammenzuführen – im Interesse Europas, unserer Freiheit und unseres Wohlstandes. Wir müssen als Europa Vorstellungen über Lösungswege aus dem Ukrainekonflikt ebenso entwickeln wie für unsere zukünftige Selbstverteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit. Und wir müssen sie konkretisieren, mit einem Fahrplan versehen, und glaubhaft machen.
Es bedarf zweitens einer Vorstellung, wie die deutsche und europäische Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig werden kann. Deutschland und Europa werden als Partner und Spieler nur ernst genommen, wenn sie wirtschaftlich attraktiv bleiben. Dabei spielt Deutschland eine zentrale Rolle für die europäische Wirtschaft und steht vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen sind dort hausgemachte Probleme: die Kosten für die Transformation der Wirtschaft sind enorm, hinzu kommt eine überbordende Bürokratie, die nicht nur enormen Mehraufwand verursacht, sondern durch veraltete Prozesse und Strukturen erhebliche zeitliche Verzögerungen nach sich ziehen. In der Folge wird es für Unternehmen zunehmend unattraktiv in Deutschland tätig zu sein. Zum anderen ist der wirtschaftliche Erfolg deutscher Unternehmen sehr stark von China abhängig: als Markt für seine Produkte, als Werkbank für kritische Vorgüter und als Lieferant von seltenen Erden. Genau diese Abhängigkeit aber ist es, die ein Risiko darstellt.
Es wird bei der Frage nach der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit also auch um die „Gretchenfrage“ der Beziehungen mit den USA gehen: „Sag Europa, wie hältst Du es mit China.“ Weder die USA noch Deutschland können oder wollen es sich leisten, ihre wirtschaftlichen Beziehungen mit China vollständig zu entkoppeln. Es ist sicher wichtig, sich mit Alternativen zu China auseinanderzusetzen. Sinnvoller aber erscheint es auch aus deutscher Sicht die Frage zu stellen, wie der europäische Wirtschaftsraum unabhängig von China im Interesse der eigenen Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden kann.
Drittens muss es gelingen, Deutschlands Glaubwürdigkeit als Treiber und Partner der Europäischen Idee wieder herzustellen. In den letzten Jahren hat Deutschland aber viel von seiner Glaubwürdigkeit als Partner und Treiber der europäischen Integration in den letzten Jahren verspielt. Zwar hat Deutschland vieles getan, um die vielen Krisen, von der Finanzkrise 2008/2009 bis zum Krieg in der Ukraine, zu managen. Dennoch hat sich dabei der Eindruck durchgesetzt, dass Deutschland weder bereit wäre, für die Freiheit anderer zu sterben, noch bereit ist seine ökonomischen Fähigkeiten für das Wachstum in Europa wirklich einzusetzen.
Keine dieser drei strategischen Prioritäten für eine deutsche Außenpolitik im Zeichen der Wiederwahl Donald Trumps ist neu. Keine ist trivial. Keine ohne schwierige Zielkonflikte. Keine ohne schmerzhafte Einbußen. Aber: zu keinem Zeitpunkt erschien ihre Beantwortung dringender als jetzt.
Die kommenden fünf Jahre werden entscheidend sein für die Zukunft unserer Freiheit und unseres Wohlstandes.
Die Herausforderungen und Chancen für Deutschland sind klar. Ob die aktuelle Bundesregierung in einer Verfassung ist, sie anzunehmen, ist eine andere Frage.