Putins Kulturkrieg und seine Unterstützer
Aus seiner verrückten Weltsicht führt Wladimir Putin einen „Befreiungskrieg“ an zwei Fronten: An der einen „befreit“ er das ukrainische Brudervolk von der Herrschaft einer in Kiew regierenden Nazi-Bande, an der anderen bewahrt er sein russisches Volk vor der westlichen Cancel Culture, schützt es vor der kulturellen Zerstörung.
Seit ewig begründen Kriegsherren ihre Feldzüge immer wieder auch kulturell. Da geht es um den Schutz angeblich gefährdeter Werte und kultureller Eigenheiten, um Überlegenheit und Unterordnung, um die Angst vor Überfremdung.
So gesehen ist Putins Zwei-Fronten-Krieg nichts Neues. Befremdlich dagegen bleibt: Während der Westen den Angriffskrieg einhellig verurteilt, findet Putins Kulturkrieg in Europa und den Vereinigten Staaten durchaus Unterstützer. Und das nicht erst jetzt. Auch im Westen kämpfen so manche schon seit Jahren gegen einen vermeintlichen Kultur- und Werterelativismus.
Auch im Westen kämpfen so manche schon seit Jahren gegen einen vermeintlichen Kultur- und Werterelativismus.
Kürzlich, am russischen Tag der Kulturschaffenden, hat Wladimir Putin die Notwendigkeit seiner doppelten Kriegserklärung öffentlich erläutert. Russland, sagte er, müsse sich nicht nur gegen den militärischen, sondern auch gegen den kulturellen Vormarsch des Westens verteidigen. Europa und Amerika, wütete Putin, wollten Russlands Kultur vernichten, sie strichen Komponisten wie Tschaikowski, Schostakowitsch und Rachmaninow aus ihren Konzertprogrammen und würden Bücher russischer Schriftsteller verbrennen.
Wie im ukrainischen Präsidentenpalast sieht Putin auch in westlichen Kulturhäusern Nazis am Werk. „Das letzte Mal, dass eine solch massive Kampagne zur Vernichtung anstößiger Literatur geführt wurde“, sagte er, „war vor fast 90 Jahren, ausgeführt von den Nationalsozialisten in Deutschland“. Der Westen versuche, Russland zu zerstören, „ein ganzes tausendjähriges Land, unser Volk zu ‚canceln‘“.
Kronzeugin dieser destruktiven Cancel Culture ist für Putin die weltberühmte Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling. Denn seit sie öffentlich die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Frauen kritisiert, wird sie im Westen heftig angegriffen.
Die Gender-Debatte, die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen, die Paraden am Christopher-Street-Day, sind für Wladimir Putin Ausdruck westlicher Schwäche, Zeichen gesellschaftlichen Niedergangs und kultureller Pervertierung. Davor will er Russland ebenso bewahren wie vor einem Geschichtsrelativismus.
In Putins Augen waren der Zerfall der Sowjetunion und die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken in NATO und EU Russlands bislang größte Schmach. Seine Vorbilder sind jene Zaren und Zarinnen, die das russische Reich und die Macht des Kremls immer weiter gen Osten, Westen und Süden ausgedehnt haben.
Russen, die kritisch auf ihre Geschichte schauen, sind in Putins Welt unpatriotisch.
Putins Sicht der Geschichte ist verstellt und schöngefärbt, er will nicht sehen, dass Russland selbst in den engeren Grenzen von heute immer noch eine Kolonialmacht ist – und dass alle Kolonialmächte irgendwann ihre Macht überdehnten und auseinanderbrachen. Russen, die kritisch auf ihre Geschichte schauen, sind in Putins Welt unpatriotisch, Vaterlandsverräter, üble Nestbeschmutzer, die bestraft gehören.
Verstellte und verklärte Blicke auf die Geschichte ihrer Nationen haben allerdings auch andere Staatsführer. Ungarns und Polens Regierungen oder der ehemalige amerikanische Präsident Donald Trump führen ebenfalls Kultur- und Geschichtskämpfe. Gerade die Vereinigten Staaten bieten dafür immer wieder reichlich Anschauungsmaterial, egal ob es um das Recht auf Abtreibung, auf gleichgeschlechtliche Ehe oder auf das Tragen von Waffen geht, um Sexualkunde in der Schule oder darum, wie die Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner, das Menschheitsverbrechen der Sklaverei oder der Bürgerkrieg unterrichtet werden sollen.
Verstellte und verklärte Blicke auf die Geschichte ihrer Nationen haben auch andere Staatsführer.
Ein besonderer Stein des Anstoßes ist immer wieder die sogenannte „Critical Race Theory“ als Teil des Schulprogramms. Darüber werden mittlerweile erbittert Wahlkämpfe geführt. Dabei wollte diese in den siebziger Jahren entwickelte Theorie einst nur die Augen für die vielen fatalen Folgen des allgegenwärtigen Rassismus öffnen, wollte dessen Wurzeln aufzeigen und darstellen, wie der Rassismus sich ausgebreitet, Schritt für Schritt Gesetze, Institutionen und die gesamte Gesellschaft erfasst hat.
Auch in Deutschland kennen wir ähnliche Auseinandersetzungen. Zwar werden sie nicht mit der gleichen Vehemenz und Unversöhnlichkeit geführt, doch kommt es durchaus zu Streit, zum Beispiel über unsere kollektive Verantwortung für koloniale Verbrechen in Namibia oder die Umbenennung von Straßen wie etwa die Berliner Mohrenstraße, über die Rückgabe von Raubkunst, den alltäglichen Rassismus und Antisemitismus oder über das Gender-Sternchen.
Gesellschaftliche Kontroversen sind wichtig.
Ja, es entstehen dabei durchaus ideologische Übertreibungen, erfolgt mancher Denkmalsturz voreilig und unüberlegt. Aber alles in allem sind solche Kontroversen wichtig.
Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen, die 2003 mit ihrem Roman „Stalins Kühe“ debütierte, hat dazu kürzlich in der Süddeutschen Zeitung einen klugen Essay veröffentlicht. Auf Russland gemünzt, schreibt sie: „In der Sowjetunion stellten die Schulen sicher, dass ganze Generationen in dem Glauben erzogen wurden, dass die Angriffe und Besetzungen, die von ihrem Land ausgingen, gerechtfertigt waren. In den 1990er-Jahren waren kurzzeitig auch andere Stimmen vernehmbar, aber die Putin-Ära hat die Erziehung wieder auf die patriotische Linie gebracht und die politische Geschichtsschreibung eingeschränkt.“
Diese Sätze treffen nicht nur auf Russland zu, in ihnen steckt eine für alle Nationen geltende Botschaft: Geschichte darf nicht glorifiziert werden, jedes Volk sollte sich auch mit den Schattenseiten seiner Vergangenheit und Gegenwart befassen.
Putins Krieg gegen die Ukraine hat einen Kulturkampf entfacht.
Putins Krieg gegen die Ukraine hat einen Kulturkampf entfacht, der manchenorts auf die Spitze getrieben wird. In Russland muss Wladimir Urin, der Leiter des weltberühmten Bolschoi-Theaters, um seinen Job bangen, nur weil er die russische Invasion gerügt hat. In Wales, so wird berichtet, hat ein Orchester wegen des Kriegs Tschaikowski aus dem Programm genommen, und in Berlin schlug der ukrainische Botschafter die Einladung des Bundespräsidenten zu einem völkerübergreifenden Konzert für die Ukraine mit der – falschen! – Behauptung aus, im Schloss Bellevue würden nur russische Solisten auftreten.
Diesen zerstörerischen Kulturkämpfen muss die Stirn geboten werden. Beispiele dafür gibt es zum Glück genug. So spielt das New York Philharmonic Orchestra derzeit ganz bewusst Schostakowitschs Neunte Symphonie sowie Stücke von Rachmaninow und Prokofjew. Auch die im Schloss Bellevue aufgetretenen Musiker aus der Ukraine, aus Belarus und Russland ließen sich nicht vom Botschafter einschüchtern. Im Gegenteil, zum Schluss setzte sich der 84-jährige ukrainische Pianist Walentyn Sylwestrow ans Klavier und spielte eigene Werke, die er kurz zuvor auf seiner Flucht aus Kiew komponiert hatte.
Und auf Twitter teilte J.K. Rowling dem russischen Präsidenten unmissverständlich mit, dass sie sich nicht von ihm für seinen Kulturkrieg vereinnahmen lasse: „Kritik an westlicher Cancel Culture“, so die Autorin, „sollte am besten nicht von jenen geäußert werden, die derzeit Zivilisten wegen ihres Widerstands abschlachten oder ihre Kritiker einsperren und vergiften“.
Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA. Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.
Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.