Solidarität und Solidität gehören in Europa zusammen
Prof. Dr. Andreas Dombret, Schatzmeister der Atlantik-Brücke und Global Senior Advisor bei Oliver Wyman, geht in einem Gastbeitrag für das Manager Magazin online der Frage nach, ob die Europäische Union nun Corona-Bonds benötigt.
Noch ist nicht klar, wie viele Opfer die Corona-Pandemie weltweit kosten wird. Und genauso unklar ist es, wie hoch die Kosten für die Volkswirtschaften in Europa und der Welt sein werden. Sicher ist aber, dass zeitnah hohe finanzielle Mittel nötig sind im Kampf gegen den Erreger, der vor Ländergrenzen nicht Halt macht und alle Volkswirtschaften in ihren wirtschaftlichen Grundfesten erschüttert. Aus diesem Grund steht bei der Videokonferenz der Eurogruppe heute Nachmittag (Dienstag, 7. April 2020) auch nur ein einziger Tagesordnungspunkt auf der Agenda: Eine Diskussion der Finanzminister über finanzpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19.
Seit Tagen schon gibt es in Europa finanzpolitisch kaum ein anderes Thema als die Frage, ob als Antwort auf die Krise sogenannte Corona-Bonds begeben werden sollen. Staatschefs, Minister und EU-Kommissare sind allgegenwärtig in ihren Interviews und Meinungsbeiträgen. Befürworter und Skeptiker von Corona-Bonds äußern sich zum Teil sehr emotional, und die Debatte erinnert inhaltlich stark an jene über Euro-Bonds während der Schuldenkrise 2010. Ein europäischer Konflikt auf der heutigen Sitzung der Eurogruppe scheint somit vorgezeichnet.
Aber gerade jetzt kommt es angesichts der immensen gesundheitlichen Herausforderung auf eine entschlossene Antwort Europas auf die Krise an – eine Antwort, die wirkt, die die Bürger und Märkte überzeugt und bei der sich Europa nicht auseinander dividieren lässt. Sind Corona-Bonds die Lösung? Oder wie sollte solch eine Antwort konkret aussehen?
Was jetzt wichtig ist
Niemand weiß heute, wie groß die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Krise ausfallen, denn dies hängt maßgeblich von der weiteren Ausbreitung des Coronavirus und der Dauer der Pandemie ab. Aber bereits jetzt ist offensichtlich, dass Europa mit einer schweren Liquiditäts- und Solvenzkrise konfrontiert wird, von der erhebliche finanzielle Risiken ausgehen. Hierauf muss trotz aller bestehenden Unsicherheiten eine Antwort gefunden werden.
Die folgenden drei zentralen Aspekte zur Bewältigung der Corona-Krise dürften zwischen den Finanzministern unstrittig sein und sollten meines Erachtens die Basis aller weiteren finanzpolitischen Schritte in der Krise bilden:
Erstens muss die Liquidität der europäischen Staaten und die finanzielle Stabilität des Wirtschafts- und Währungsraums sichergestellt werden. Dies gilt in erster Linie für die besonders vom Virus betroffenen Länder. Perspektivisch müssen auch Mittel und Instrumente bereitstehen, um die Kosten des wirtschaftlichen Ausbaus nach der Krise zu bewältigen.
Zweitens müssen die gewählten Maßnahmen praktikabel, also kurzfristig umsetzbar sein, damit die Mittel schnell die Empfänger erreichen und somit effizient wirken können. Außerdem ist es für alle Länder wichtig, ihre Neuverschuldung zu möglichst günstigen Konditionen vorzunehmen.
Und drittens brauchen wir ein gemeinsames Vorgehen in Europa – ein Vorgehen, das von allen Mitgliedsstaaten vorbehaltlos mitgetragen wird. Finanzpolitische Solidarität muss alle Mitgliedsländer einschließen. Es bedarf also einer einheitlichen europäischen Antwort.
Pro und Contra Corona-Bonds
Corona-Bonds zeichnen sich vor allem durch eine gemeinsame Verschuldung und damit durch eine Vergemeinschaftung von Risiken aus. Insofern können auf diese Weise Schuldtitel in hohen Beträgen zu niedrigen Zinsen emittiert werden. Der Wunsch der Befürworter vergemeinschafteter Schulden, solche Mittel ohne Konditionalität und ohne Erhöhung des nationalen Schuldenstandes zur Verfügung gestellt zu bekommen, wäre bei Corona-Bonds ebenfalls erfüllt. Außerdem käme es durch Corona-Bonds angeblich auch nicht zu einem Stigma der Antragsteller, die diese bei der Inanspruchnahme europäischer Hilfsprogramme befürchten.
Corona-Bonds haben aber einen unwiderlegbaren Nachteil: Es bedarf langer Vorbereitungen, bis die Voraussetzung zur Emission von Corona-Bonds in Europa geschaffen wären. Und aufgrund der Skepsis der sogenannten Nordländer qualifizieren Corona-Bonds nicht als einheitliche fiskalpolitische Maßnahme in Europa.
Deutschland, Österreich, die Niederlande, Finnland und weitere europäische Mitgliedsstaaten hatten bereits in der Debatte um Euro-Bonds auf die „Moral Hazzard“-Problematik von vergemeinschafteten Risiken hingewiesen und davor gewarnt, trotz der bedrohlichen Krise Haftung und Kontrolle voneinander zu trennen. Dies gilt insbesondere in einer Währungsunion, die ausdrücklich keine Fiskalunion ist, wo also eine gemeinsame Geldpolitik vorherrscht bei unverändert nationalen Haushaltspolitiken. Für Corona-Bonds müssten die in der Eurozone geltenden finanzpolitischen Regeln und das EU-Recht grundlegend geändert werden, was einen breiten europäischen Konsens voraussetzt, der gegenwärtig realistischerweise nicht herzustellen ist. Eine Diskussion, das Budgetrecht völlig neu zu gestalten und damit die Souveränität der nationalen Haushaltspolitik komplett neu auszurichten, ist zudem verfassungsrechtlich anspruchsvoll und dauert seine Zeit – eine Zeit, die momentan ganz sicher nicht zur Verfügung steht.
Die Eurogruppe muss einen Kompromiss finden
In der Staatsschuldenkrise – keine 10 Jahre her – haben sich die EU-Staaten auf einen Kompromiss verständigt: Man einigte sich zwar nicht auf Euro-Bonds, aber auf die Gründung des ESM, des Europäischen Stabilitätsmechanismus. Vom ESM vergebene Mittel stellen vergemeinschaftete Schulden dar, sind der Höhe nach aber begrenzt, unterliegen einer Konditionalität und werden dem Schuldenstand des jeweiligen Empfängerlandes zugerechnet.
Europa verfügt also über den ESM, der aktuell EUR 410 Mrd. zu attraktiven Zinsen mobilisieren kann und sofort einsetzbar ist. Enhanced Credit Lines an besonders betroffene Länder sind sehr wohl denkbar, und es besteht angesichts von Covid-19 die Bereitschaft, ohne Troika und mit geringer Konditionalität auszukommen. Zusätzlich kann vergemeinschaftete Hilfe auch von der Europäischen Investitionsbank, der EIB kommen. Die EU plant ebenfalls, zielgerichtet Haushaltsmittel in erheblichem Umfang zur Verfügung zu stellen. Alle drei Behörden stehen übrigens aktuell unter deutscher Leitung. Und ein Stigma für mögliche Antragsteller ist im Markt nicht auszumachen.
Die finanzpolitische Lage von Italien und Spanien ist derzeit stabil. So rentieren 10-jährige italienische Staatsanleihen bei rd. 1,5% und 10-jährige spanische Staatsanleihen bei rd. 0,75%. Beide Länder haben in der vergangenen Woche erfolgreich emittiert und sind damit weit von den hohen Risikoaufschlägen entfernt, die sie während der Schuldenkrise bezahlen mussten.
Gleichwohl: Es werden in dieser Krise erhebliche finanzielle Mittel zur Stützung der europäischen Volkswirtschaften benötigt, und dies sehr zeitnah. Die EZB unterstützt geldpolitisch. Mit dem ESM, der EIB und der EU stehen existierende, voll handlungsfähige Institutionen mit großer finanzieller Feuerkraft und erprobten Abstimmungsmechanismen zur Verfügung, die fiskalpolitisch zur Bekämpfung der Krise genutzt werden können. Dies ist ein sinnvoller und für Alle gangbarer Kompromiss, hinter den sich die Eurogruppe heute einstimmig stellen sollte.
Statt Corona-Bonds lieber die Kapitalmarktunion vorantreiben
Die europäischen Mitgliedsstaaten haben sich bislang bewusst gegen ein Modell der „United States of Europe“ entschieden – eine Vergemeinschaftung von Schulden ist damit weitgehend ausgeschlossen. Eine Verbiegung europäischen Rechts ist gerade in der aktuellen, schwierigen Lage weder möglich, notwendig noch angezeigt und schadet langfristig nur der Gemeinschaft. Wir müssen angesichts der steigenden Schuldenstände vielmehr darauf achtgeben, dass in Europa aus der Corona- nicht eine erneute Staatsschuldenkrise entsteht. Nach der Krise muss schnellstmöglich wieder zu soliden Staatsfinanzen zurückgekehrt werden.
Es ist wichtig und richtig, dass die EU-Mitgliedsstaaten im Angesicht der Krise solidarisch handeln und gemeinsam die wirtschaftliche Stabilität Europas sichern. Dabei muss aber ökonomisch und rechtlich solide vorgegangen werden. Solidarität und Solidität sind zwei Seiten einer Medaille und gehören zwingend zusammen. In der Vergangenheit mussten in Europa realistische Kompromisse gesucht und gefunden werden, und das ist in dieser Krise wieder der Fall. Die Finanzminister wissen: Europe is all about compromise. Eine aufeinander abgestimmte Nutzung des ESM, der EIB und der Haushaltsmittel der EU stellt solch einen vernünftigen, tragfähigen Kompromiss dar.
Die Voraussetzungen für eine Vergemeinschaftung von Schulden können nur langfristig geschaffen werden und bedürfen vieler weiterer Verhandlungen und vieler gemeinsamer Schritte. Corona- oder Euro-Bonds sind in Europa aktuell nicht mehrheitsfähig und damit auch nicht realistisch. Die EU muss sich aber unbedingt realistische Ziele setzen, um zum einen die Bürger nicht zu enttäuschen und zum anderen die europäische Gemeinschaft beständig Schritt für Schritt weiter zu entwickeln. Sinnvoll wäre es zum Beispiel, einen einheitlichen europäischen Kapitalmarkt zu schaffen – ein Projekt, das im Gegensatz zu Euro-Bonds realistisch ist und angesichts des bevorstehenden Brexit auch von großer Dringlichkeit für die EU27. Europa sollte eine Einigung über die Kapitalmarktunion nach der Krise unbedingt engagiert angehen. Und damit beweisen, dass Europa sich beständig weiter entwickelt.
Prof. Dr. Andreas Dombret war von 2010 bis 2018 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank und hat die europäische Schuldenkrise von Anfang an aus nächster Nähe miterlebt. Seit 2018 hält er regelmäßig Vorlesungen an der Columbia University. Sein Beratungsportfolio umfasst u.a. die internationale Unternehmensberatung Oliver Wyman, die japanische Megabank Sumitomo, das britische Equity Research-Haus Autonomous und das Hamburger FinTech Deposit Solutions. Letztes Jahr erschien im Knapp-Verlag eine Dokumentation über seine Amtszeit bei der Bundesbank mit dem Titel „Stabile Banken in herausfordernden Zeiten“.
Diesen Gastbeitrag können Sie auch im Manager Magazin online hier lesen.