Digitalisierung

Mit Werten digitale Wettbewerbsfähigkeit aufbauen

Apple, Microsoft oder Amazon: Jedes dieser Unternehmen ist inzwischen mehr wert als der gesamte Dax. Da drängt sich der Eindruck auf, dass Europa im digitalen Wettbewerb weit hinter den USA und China hinterherhinkt. Dennoch sahen Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), und Dr. Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung, bei einer Diskussion der Atlantik-Brücke Gründe für vorsichtigen Optimismus.

Beide stimmten darin überein, dass der Schlüssel für Europa darin liege, Werte und Wettbewerbsfähigkeit nicht als Gegensätze zu begreifen, sondern miteinander zu vereinen. Konkret bedeute dies, ein Gegenmodell zum Datenmonopolismus der USA und Chinas zu entwickeln, wo vier große Unternehmen bzw. der Staat den alleinigen Zugang zum Datenschatz für sich beanspruchen. Die Chance für Europa bestehe darin, durch die Dezentralisierung von Daten Innovation auch außerhalb der marktbeherrschenden Plattformen zu ermöglichen.

Dabei müsse grundsätzlich das Prinzip der Datensouveränität gelten, wonach die Daten grundsätzlich dem Kunden gehören. VDA-Präsidentin Müller sprach sich dafür aus, die Kundenperspektive stärker in die Entwicklung von Geschäftsmodellen einzubinden und transparent zu machen, welche Daten gespeichert werden, wie diese verwendet werden und vor allem hervorzuheben, wie der Kunde am Ende profitiert.

Wirtschaft diskutiert Chancen digitaler Transformation – Gesellschaft eher Risiken

Besonders Letzteres sei wichtig, merkte Müller an, da in der momentanen gesellschaftlichen Debatte zu oft nur die Risiken der Digitalisierung im Vordergrund stünden, während in der Wirtschaft häufig nur die Chancen diskutiert würden. Von einer Umkehrung der Debatte könnten Gesellschaft und Wirtschaft profitieren. So merkte Dräger an, die Digitalisierung böte viele Lösungen auch für analoge Probleme wie Gerechtigkeitsfragen: Algorithmen könnten neutraler über Bewerbungen entscheiden, aber auch über Strafmaße in Gerichtsprozessen oder über die Verteilung von Kindern auf Schulen. Dafür müssten die Daten nur richtig aufbereitet werden.

Solche, auf Werten aufgebaute Geschäftsmodelle, hätten die Möglichkeit, nachhaltiger zu sein als andere. Dafür spreche auch, dass Europa schon heute Vorreiter in der Gesetzgebung und Regulierung sei. So betonten die Diskussionspartner wiederholt die Vorreiterfunktion der europäischen Datenschutzgrundverordnung. Dennoch müsse Europa vom reaktiven Verteidigen seiner Werte zum proaktiven Fördern von Innovationen umschwenken, die diese Werte berücksichtigen.

Gemeinsame Werte durch gemeinsame Regulierung stärken

Dabei sollten die Europäer vor allem den Schulterschluss mit den USA suchen, denn mit gemeinsamer Regulierung könne man auch gemeinsame Werte stärken. Dies sei insbesondere von Bedeutung, wenn es darum gehe, sich vom autoritären Ansatz Chinas abzugrenzen. Insbesondere Müller warnte eindringlich davor, den Erfolg Chinas zu verklären, da dieser erheblich auf Kosten der Bürgerrechte und der Privatsphäre gehe. Dem gelte es, unbedingt etwas entgegenzusetzen und die Strukturen der liberalen Demokratie auch im digitalen Raum zu behaupten.

Eine solche Debatte könne zu mehr gesellschaftlicher Offenheit für digitale Lösungen führen. Denn an der grundsätzlichen Kompetenz fehle es Europa, insbesondere Deutschland nicht. „Die deutsche Forschung zur Künstlichen Intelligenz muss sich nicht verstecken“, sagte Dräger. Das Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz existiere schon seit 1988. Europa sei führend im Bereich der Forschungsinstitutionen.

Es fehlt an Kapital, nicht an Kompetenz

Allerdings fehle es an Kapital. Laut zu Beginn vorgestellter Zahlen von McKinsey investieren die USA 5 bis 7 Mal so viel in digitale Forschung wie Europa, was sich auch deutlich in den Patentanmeldungen niederschlage. Um hier eine Kehrtwende einzuleiten, sei die Kooperation von Unternehmen und staatlich geförderter Wissenschaft unabdingbar. „Es sei eine komplette Illusion, heute ein KI-Unternehmen in einer Garage gründen zu können“, fasste Dräger zusammen.

Darüber hinaus merkte VDA-Präsidentin Müller an, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung nachkommen müssten, vor allem im Hinblick auf die digitale Weiterbildung der Arbeitnehmerschaft. Deutschland habe hier eigentlich eine starke Tradition. Die Unternehmen seien für 80 Prozent der nachschulischen Bildung verantwortlich. Nun komme es darauf an, dies auf das digitale Zeitalter zu übertragen. Nach Zahlen von McKinsey müssen bis 2023 ca. 2,4 Millionen Erwerbstätige in Deutschland weitergebildet werden. Zudem forderte Müller agilere Arbeitsstrukturen und einen Kulturwandel. „Mit den Mechanismen der Deutschland AG werden wir es nicht schaffen“, sagte sie.

Dies vorausgesetzt besteht dennoch Grund zu Selbstvertrauen. Deutschland habe nach wie vor entscheidendes Know-how in der Industrie. Dieses müsse allerdings intelligent mit den Möglichkeiten der Digitalisierung zu neuen Geschäftsmodellen verbunden werden. Als Hersteller von Industrieprodukten wie Fahrzeugen würde man in Zukunft zudem auch Zugang zu deren Daten haben, die womöglich einen ganz anderen Wert besitzen als die von reinen Social-Media-Plattformen. Müller wies auch auf ein aktuelles Ranking des Medienunternehmens Bloomberg zur Innovationskraft hin. In diesem belegt Deutschland den ersten Platz.

Gemeinsame und werteorientierte europäische Regulierung, Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft und eine Gesellschaft, die offen ist für die Möglichkeiten der Digitalisierung. Kommt „the next big thing“ vielleicht aus Europa? „Warum eigentlich nicht“, schloss Dräger optimistisch.

Die Diskussionsveranstaltung fand in Kooperation mit McKinsey statt. Die Moderation übernahm Ute Wolf, CFO von Evonik Industries und Mitglied im Vorstand der Atlantik-Brücke e.V.

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