Die 6. Stunde

Kriegsverbrecher zur Verantwortung ziehen

Eine Kolumne von Martin Klingst

Ein in diesen Tagen auf Twitter verbreitetes Foto drückt die Hoffnung vieler Ukrainerinnen und Ukrainer aus. Es zeigt ein großes blaues Verkehrsschild, einen Wegweiser mit mehreren Abzweigungen. Doch alle ukrainischen Ortsangaben wurden übermalt, sämtliche Pfeile auf dem Schild führen nun zu einer einzigen Stadt mit einer großen Symbolkraft: ins niederländische Den Haag, zum Sitz des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs.

Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg, so die unmissverständliche Botschaft, ist eine Einbahnstraße, die irgendwann für Wladimir Putin und seine Vasallen auf der Anklagebank enden wird.

Ein internationales Rechtstribunal gegen Putin? Was sich viele Ukrainer offenbar sehnlich wünschen, halten andere für blanken Wahnsinn.

Ein internationales Rechtstribunal gegen Putin? Was sich viele Ukrainer offenbar sehnlich wünschen, halten andere für blanken Wahnsinn. In Deutschland, in Europa, auch in den USA warnen so manche dringend vor dem Gang nach Den Haag. Sie argumentieren, die Strafverfolgung, gar die mögliche Ausstellung eines internationalen Haftbefehls gegen Putin, würde ihn nur noch mehr reizen und die Aussicht auf eine Verhandlungslösung endgültig zunichte machen. Eine Kremlführung, der die Festnahme drohe, würde kein diplomatisches Parkett mehr betreten. „Töricht“ und „provozierend gefährlich“, behaupten die Bedenkenträger, sei die Forderung nach einem internationalen Tribunal.

Abgesehen davon, dass es seit der Gründung der Haager Gerichte keinen einzigen Beleg dafür gibt, dass das Damoklesschwert der Justiz eine Friedenslösung am Verhandlungstisch verhindert hätte, verwundert es schon arg, dass diese Einwände ausgerechnet in Ländern der EU und in den USA erhoben werden. Dabei gehört es doch zum Wesen und ist es die Kernaufgabe des europäischen Bündnisses und der transatlantischen Gemeinschaft, Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu verteidigen – gerade auch mit den Mitteln des Rechts.

Es ist die Kernaufgabe des europäischen Bündnisses und der transatlantischen Gemeinschaft, Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu verteidigen.

Zum Glück jedoch zerschellen die Einwände an den Toren der Haager Gerichte, ihre Mühlen mahlen bereits.

Natürlich gibt es berechtigte Kritik an der internationalen Gerichts- und Strafgerichtsbarkeit. Sie arbeitet langsam, ist oft überfordert – und nicht frei von politischer Einflussnahme. Vor allem: In der Regel sind ihr nur kleine, schwache Staaten ausgesetzt, während die großen, mächtigen sich dem Zugriff entziehen. Von den Völkerrechtsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien bis zu jenen in Ruanda oder im Libanon haben sich internationale Tribunale oft nicht mit Ruhm bekleckert.

Außerdem: Mangels einer eigenen Polizei sind die Gerichte etwa zur Durchsetzung von Festnahmen und Urteilen immer auf die Mithilfe williger Staaten angewiesen. Daran fehlt es mitunter. Als der wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit einem internationalen Haftbefehl gesuchte ehemalige sudanesische Staatschef Omar Hassan al-Bashir im Sommer 2015 zu einer Konferenz nach Johannisburg reiste, stellte sich die südafrikanische Regierung taub und ließ ihn unbehelligt ein- und ausfliegen.

Dennoch: Trotz der Unzulänglichkeiten und politischen Schieflagen ist die Etablierung der internationalen Gerichtsbarkeit ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt – und von großem symbolischen Wert. Den Haag ist der sozusagen ultimative Beweis, dass die Macht nicht über dem Recht, sondern das Recht über der Macht steht. Selbst allgewaltige Potentaten wie Putin dürfen sich nicht für alle Zeiten in Sicherheit wiegen, sondern müssen damit rechnen, eines Tages für ihre Menschheitsverbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden.

Die Etablierung der internationalen Gerichtsbarkeit ist ein gewaltiger zivilisatorischer Fortschritt – und von großem symbolischen Wert.

Wichtig ist Den Haag auch für die ungezählten Opfer, fürs Wachhalten des kollektiven Gedächtnisses. Denn wenn die Justiz von Anfang dabei ist, kann sie rechtzeitig wichtige Beweise erheben und diese vor Verwischung, Zerstörung oder Vergessen bewahren.

Putin & Co. droht Ungemach zugleich an mehreren juristischen Fronten. So hat die Ukraine in der vergangenen Woche Russland vor den Haager Internationalen Gerichtshof gezerrt. Vor diesem obersten Gericht der Vereinten Nationen kann ein Staat einen anderen verklagen, weil völkerrechtliche Verpflichtungen nicht eingehalten werden.

Die Ukraine beschuldigt Moskau einer Verletzung der auch von Russland unterzeichneten Völkermordkonvention. Allerdings bezichtigt sie Russland nicht eines Genozids, denn Putin geht es nicht um die gezielte Auslöschung aller Ukrainer, nicht darum, wie es die Konvention formuliert „nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppen“ ganz oder teilweise absichtlich zu vernichten. Wladimir Putin strebt nach Vorherrschaft und Kontrolle.

Doch die Regierung in Kiew bedient sich eines juristischen Tricks, denn gestritten werden darf auch über die bloße Deutung des Begriffs Völkermord. Putin hat nämlich selbst den Begriff Genozid ganz offiziell ins Feld geführt, rechtfertigt er seinen Krieg doch mit der absurden Behauptung, nur so könne er die in der Ukraine lebenden Russen vor einem Völkermord seitens der Ukrainer schützen.

Dieses Scheinargument will die Kiewer Regierung nun vor dem Internationalen Gerichtshof als eine dreiste Kriegslüge und einen Missbrauch der Genozid-Konvention enttarnen, um aller Welt klarzumachen: Seht her, es gibt keine einzige legitime Begründung für Russlands Einmarsch in die Ukraine, Putin führt dort einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg!

Je öfter russische Truppen wahllos auf Wohnviertel feuern und flüchtende Ukrainer unter Beschuss nehmen, je offensichtlicher sie einen Vernichtungskampf wie im tschetschenischen Grosny oder im syrischen Aleppo führen, desto mehr geraten Putin, seine Gefolgsleute, Generäle und Soldaten ins Visier eines weiteren Gerichts: des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (IStGH).

Gezielte, systematische Attacken auf die ukrainische Zivilbevölkerung sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Beschießung von Schulen, Krankenhäusern, Entbindungskliniken oder Gebäuden der Stadtverwaltung sind Kriegsverbrechen. Darum hat der Chefankläger des IStGH soeben die Aufnahme von Ermittlungen beschlossen und wird dabei von 39 Mitgliedsstaaten des Gerichtshofs unterstützt, darunter auch von Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Nebenbei bemerkt: Die Vereinigten Staaten gehören dem Gerichtshof leider nicht an. Zwar unterstützen sie immer wieder dessen Ermittlungen, wollen sich aber selbst der Gerichtsbarkeit des IStGH nicht unterwerfen.

Im Unterschied zum Internationalen Gerichtshof können vor dem Internationalen Strafgerichtshof Einzelpersonen angeklagt werden. Selbst Könige, Präsidenten und Premiers genießen hier keine Immunität, der IStGH wurde genau dafür geschaffen, auch amtierende Staatschefs strafrechtlich zu verfolgen.

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Zunächst wird die Haager Staatsanwaltschaft in einem aufwändigen Verfahren Beweise erheben, mit deren Hilfe sich Völkerverbrechen feststellen lassen. Erst in einem zweiten Schritt wird es dann um die Frage der individuellen Verantwortung gehen, also darum, ob diese Kriegsverbrechen Putin und weiteren Personen in seinem Umkreis zugerechnet werden können.

Zwar sind auch Russland und die Ukraine nicht dem IStGH beigetreten, doch hat die Ukraine zweimal die Zuständigkeit des Haager Strafgerichtshofs für bestimmte in seinem Hoheitsgebiet begangene Verbrechen förmlich anerkannt: Im April 2014 für schwere Straftaten, die zwischen dem 21. November 2013 und dem 22. Februar 2014 während der Niederschlagung der Maidan-Proteste verübt wurden. Und ein Jahr später für sämtliche Verbrechen, die seit dem 20. Februar 2014 auf dem gesamten Territorium der Ukraine begangen werden. Kurzum: Auf der Grundlage dieser zweiten Erklärung können auch Straftaten im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Krieg in die vom IStGH eingeleiteten Untersuchungen einbezogen werden.

Unter den Namen Den Haag könnte man auf das ukrainische Verkehrsschild auch die Städte Straßburg und Karlsruhe malen. Die Ukraine hat Russland vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg verklagt, und an das Gericht dürfen sich darüber hinaus auch einzelne Opfer des Krieges wenden, zum Beispiel wegen einer Verletzung ihres Rechts auf Leben oder körperliche Unversehrtheit.

Das Gericht ist auch zuständig für Klagen von mutigen Russinnen und Russen, die in diesen Tagen in Jekaterinburg, Moskau oder Sankt Petersburg gegen Putins Krieg protestieren. Sie können vor den Straßburger Richtern willkürliche Verhaftungen und Folter sowie die Verletzung der freien Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit anprangern. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof ist ein Organ des Europarats. Da der Rat aber Russland wegen des Kriegs suspendiert hat und daraufhin diese Woche auch Moskau seine Mitarbeit einstweilen einstellte, ist fraglich, ob sich die Straßburger Richter noch mit Klagen gegen Russland befassen werden.

Es ist an uns, an Europa und den USA, dass Kriegsverbrecher wie Putin nicht ungeschoren davonkommen.

Schließlich und letztlich: Der Verdacht, dass Russland völkerrechtlich verbotene Streubomben einsetzt, dass es Wohnviertel beschießt, Wasserwerke, Gaspipelines, Heizkraftwerke und Atommülldeponien in die Luft sprengt, hat in der vergangenen Woche auch Deutschlands Generalbundesanwalt in Karlsruhe alarmiert. Nach dem Völkerstrafgesetzbuch ist er befugt, weltweit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verfolgen. Der Generalbundesanwalt hat darum ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren eingeleitet. Dabei werden – zunächst ohne konkrete Beschuldigte – so viele Beweise und Indizien wie möglich gesammelt, um später einmal strafrechtlich gegen einzelne Täter vorgehen zu können.

Wladimir Putin, seine Regierung und sein Militär, auch etliche russische Wirtschaftsführer verüben in der Ukraine schwerste Kriegs- und Menschheitsverbrechen. Damit diese nicht ungesühnt bleiben und auch höchste Staatsführer nicht davonkommen, wurde eine internationale Gerichtsbarkeit geschaffen und ein Weltrechtsprinzip, das die Zuständigkeit eines Staates für die Verfolgung von Völkerstrafdelikten selbst dann vorsieht, wenn die Taten nicht auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurden und weder Täter noch Opfer seine Staatsangehörige sind.

Es ist an uns, an Europa und den USA, dass Kriegsverbrecher wie Putin nicht ungeschoren davonkommen, sondern sich eines Tages vor einem weltlichen Gericht in Den Haag oder anderswo verantworten müssen. Es ist ein hehrer transatlantischer Grundsatz, das Recht über die Macht zu stellen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte er Geltung entfalten?

Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA. Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

Bleiben Sie auf dem Laufenden und abonnieren Sie unsere Newsletter RECAP & INSIGHTS.