Die 6. Stunde

Deutschland, der Westen und Wladimir Putin: Von Helmut Schmidt lernen

Eine Kolumne von Martin Klingst

„Besser 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.“ Dieser Satz des ehemaligen Bundeskanzlers und Sozialdemokraten Helmut Schmidt wird angesichts des brandgefährlichen Konflikts mit Russland derzeit besonders oft zitiert. Vor allem Sozialdemokraten verweisen gerne darauf. Bundeskanzler Olaf Scholz hat Helmut Schmidt – neben Willy Brandt, dem Friedensnobelpreisträger und Vater der Ostpolitik – sogar zu seinem Vorbild erklärt.

Verhandeln ist gerade jetzt, da Russland an der ostukrainischen Grenze mehr als 100.000 Soldaten aufziehen lässt, oberstes Gebot. Und die Bundesregierung verhandelt auch, sie ist, anders als es manche behaupten, keineswegs untätig.

Was viele Kritiker hierzulande wie auch im westlichen Ausland geflissentlich übersehen: Von allen Ländern zahlt Deutschland der Ukraine das meiste Hilfsgeld, mehr noch als die Vereinigten Staaten. Außerdem ist Deutschland mit seinen Diplomaten ganz vorne dabei, wenn es darum geht, einen Krieg in Europas Osten zu verhindern.

Nachdem Russland 2014 die Krim besetzt und in der Ostukraine einen Krieg angezettelt hatte, handelte Deutschland gemeinsam mit Frankreich das Minsker Abkommen aus. Zugegeben, der Vertrag wurde nicht wirklich erfüllt. Weder konnten die in der Ost-Ukraine herrschenden Kämpfe befriedet noch der Konflikt politisch gelöst werden. Aber zumindest wurde die Ausweitung des Krieges vermieden.

Auch jetzt ist es Berlin und Paris immerhin gelungen, das längst totgesagte Normandie-Format wiederzubeleben, jene Vierer-Gespräche, an denen neben der Ukraine vor allem auch Russland teilnimmt. Es wird zumindest geredet. Helmut Schmidts weiser Satz, damals mitten im Kalten Krieg gesprochen, als sich Sowjets und Amerikaner bis an die Zähne bewaffneten und in Asien und Afrika Stellvertreterkriege führten, hat nicht an Bedeutung verloren.

Soweit die eine Seite von Helmut Schmidt. Die andere: Der hartbeinige, kühl kalkulierende Realist wusste nur zu genau, dass Verhandlungen nur fruchten, wenn sie aus einer Position der Stärke geführt werden. Und dass ein wirksamer Friede immer auch ein wehrhafter sein muss. Diese andere Seite Schmidts wird allerdings derzeit gerne verschwiegen. Die meisten Sozialdemokraten sprechen allein vom Gebot zu verhandeln. Die Notwendigkeit, gleichzeitig Druck auszuüben, findet nur verklausuliert Erwähnung. Da konnte auch die SPD-Klausur am vergangenen Montag keine größere Klarheit schaffen.

Helmut Schmidts andere Seite wurde unter anderem im Juni 1979 sichtbar, als ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Harvard verliehen wurde und er vor den Absolventen der Eliteschule die sogenannte Commencement Speech hielt. Seine Rede richtete der deutsche Bundeskanzler allerdings weniger an die Studenten als an die damaligen Staatschefs der USA und der Sowjetunion.

Kein Zweifel, Helmut Schmidt war sich der enormen deutschen Schuld gegenüber der UdSSR und den sowjetischen Völkern bewusst.

Jimmy Carter und Leonid Breschnew wollten sich wenige Tage später in Wien zu Abrüstungsgesprächen treffen. Ihr Ziel: im Rahmen des SALT-II-Vertrags ihre nuklearen Trägersysteme, vor allem die Interkontinentalraketen, zu begrenzen. Schmidt begrüßte das, doch zugleich war ihm mulmig. Er befürchtete, Breschnew könnte die Amerikaner in den Verhandlungen über den Tisch ziehen.

Kein Zweifel, gerade auch der ehemalige Wehrmachtssoldat Helmut Schmidt war sich der enormen deutschen Schuld gegenüber der UdSSR und den sowjetischen Völkern bewusst. Immer wieder hob er die aus den Verbrechen resultierende besondere deutsche Verantwortung hervor – nicht nur gegenüber Russland, sondern ebenso gegenüber den vielen anderen Teilstaaten der ehemaligen Sowjetunion, etwa dem Baltikum oder der Ukraine, um nur einige zu nennen.

Ebenso betonte Schmidt, dass wir Russland großen Dank dafür schulden, dass die ehemalige Rote Armee 1989 in den Kasernen blieb und sich nach dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion friedlich aus dem Gebiet der Ex-DDR zurückzog. Deutschland wird darum immer eine besondere politische, historische und wirtschaftliche Beziehung zu Russland haben.

Dennoch: Schmidt war ein politischer Realist und sah mit Sorge, wie die Kremlherrscher nach Vorherrschaft in Europa strebten.

Dennoch: Schmidt war ein politischer Realist und sah mit Sorge, wie die Kremlherrscher in den siebziger und achtziger Jahren ihr Militär immer weiter modernisierten und nach Vorherrschaft in Europa strebten. Der Kanzler fürchtete darum, dass eine Einigung zwischen Carter und Breschnew Moskaus militärisches Übergewicht in Europa unberührt ließe.

Mehr noch: Schmidt schwante, dass die USA dieses Übergewicht alsbald nicht mehr mit ihren eigenen strategischen Waffen würden ausgleichen können. Denn die UdSSR stellte eifrig neue Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 auf. Sie waren nicht Teil der Abrüstungsverträge und bedrohten vor allem Westeuropa und das Gleichgewicht zwischen Warschauer Pakt und NATO.

Schmidt preschte darum vor und forderte bei seinem Auftritt in Harvard – wie übrigens schon ein Jahr zuvor am Rande einer Rede vor dem Londoner International Institute for Strategic Studies – eine doppelte Strategie des Westens gegenüber der Sowjetunion: einerseits die rasche Unterzeichnung und Ratifizierung des geplanten Vertrags, weil das Wettrüsten sonst kein Ende nehme; andererseits die Modernisierung westlicher Nuklearwaffen und die Aufstellung atomar bestückter Mittelstreckenraketen in Westeuropa, auch auf deutschem Boden. „Unsere Allianz“, warnte Schmidt in Harvard, „kann angesichts dieser Entwicklung nicht faul bleiben.“

Die Mittelstreckenraketen kamen. Ende 1979 erließ die NATO den sogenannten Doppelbeschluss, der zum einen die Stationierung von Pershing II-Raketen und Marschflugkörpern in Westeuropa ankündigte und zum anderen bilaterale Verhandlungen zwischen den USA und der UdSSR über die Begrenzung ebendieser Mittelstreckenraketen forderte.

Am 22. November 1983 stimmte der Deutsche Bundestag der Stationierung zu – gegen den erbitterten Widerstand von hunderttausenden Demonstranten und Teilen der SPD. Schmidt war bereits im Jahr zuvor als Kanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt worden.

Zur Wahrheit gehört an dieser Stelle: Auch ich, der Verfasser dieser Zeilen, protestierte damals als junger Student im Bonner Hofgarten gegen atomare Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden. Musste aber später einsehen, dass ich geirrt hatte, weil dieser Doppelbeschluss mit dazu beitrug, dass die Mauer fiel und die sowjetische Gewaltherrschaft in Osteuropa ein Ende fand. Und dass etliche ehemalige Staaten der UdSSR Jahre später selbstbestimmt entscheiden durften, der Europäischen Union und dem westlichen Verteidigungsbündnis NATO beizutreten. Ein Recht, dass Russland jetzt der Ukraine oder Georgien auf alle Zeit versagen möchte.

Es war Helmut Schmidt, der auf die sowjetische Bedrohung vorausschauend agierte.

Was Schmidts Auftritte in London und Harvard in der Rückschau so besonders macht: Nicht die Amerikaner drängten damals auf Nachrüstung. Präsident Jimmy Carter und sein Nationaler Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski waren eher der Meinung, dass Schmidt die sowjetische Bedrohung übertreibe. Sie glaubten, Amerikas Interkontinentalraketen würden einen sowjetischen Angriff auf Europa ausreichend abschrecken. Doch wollten sie Schmidt nicht enttäuschen und ließen sich darum auf den Doppelbeschluss ein. Mit Blick auf den deutschen Kanzler sagte Brzezinski später einmal: „Um ihn bei der Stange zu halten, glaubten wir, auf der Ebene der Mittelstreckenwaffen in Europa irgendwie reagieren zu müssen.“

Es waren Helmut Schmidt und seine Bonner Regierung, die auf die sowjetische Bedrohung vorausschauend agierten und Druck auf das westliche Bündnis ausübten. Diese Klarheit und Entschiedenheit scheinen heute in Berlin zu fehlen. Sollten sie gleichwohl in den Köpfen der Ampel-Koalitionäre vorhanden sein – und es spricht manches dafür, dass Scholz durchaus klar und entschieden denkt und auch handeln will –, bleiben diese Tugenden unsichtbar und werden nicht kommuniziert. Nicht gegenüber den deutschen Wählern, nicht gegenüber den NATO-Partnern – und nicht gegenüber Russland und Wladimir Putin. Das ist ein Fehler.

Diese Klarheit und Entschiedenheit scheinen heute in Berlin zu fehlen.

Es mangelt nicht an lautstarken Solidaritätsadressen gegenüber der Ukraine, auch nicht an Drohungen mit „schwerwiegenden Konsequenzen“, sollte Russland einmarschieren. „Alle Optionen liegen auf dem Tisch,“ antwortet der Bundeskanzler, antwortet der SPD-Ko-Vorsitzende Lars Klingbeil, antwortet die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, wenn sie nach Sanktionen gefragt werden. Doch wenn es darum geht zu erklären, was genau sie mit „alle Optionen“ wirklich meinen, halten sich Sozialdemokraten wie auch die große Mehrheit der im Bundestag agierenden Politikerinnen und Politiker bedeckt, äußern sich hinhaltend und unscharf, drehen und wenden sich. Allenfalls Außenministerin Annalena Baerbock findet klare Worte, insgesamt aber trottet Deutschlands Politik wieder einmal den Ereignissen hinterher.

Dabei ist die Lage klar, und das weiß auch Olaf Scholz – anders etwa als der inzwischen mehr als peinliche Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Schon seit Langem dehnt Wladimir Putin seine und Russlands Macht immer weiter aus. 2014 annektierte er völkerrechtswidrig die Krim und entfachte einen Krieg in der Ostukraine. Russlands Soldaten und Freischärler kämpfen unter anderem in Syrien, in Libyen, auch in Mali. Seit vielen Jahren springen sie in jede Lücke, die der Westen hinterlässt. Und sie bleiben auch hartnäckig dort, wo Regierungen inständig ihren Abzug fordern, etwa in Moldau oder in Georgien.

Schon seit Langem dehnt Wladimir Putin seine und Russlands Macht immer weiter aus.

Mehr noch: Ein Heer russischer Hacker greift immer wieder westliche Computernetze an, verbreitet politische Lügen, fälscht Fakten und Wahlen. Mit harter Hand hat Wladimir Putin Russlands Medien unter seine Kontrolle gebracht; Oppositionelle werden aus dem Land gejagt, in Lager gesperrt oder, wie etwa in England oder im Berliner Tiergarten, umgebracht. Eigentlich hätte Putin nach der alten Verfassung den Kreml spätestens 2024 verlassen müssen. Doch mit Hilfe der hörigen Duma wurde ein Gesetz erlassen, dass seine bisherigen Amtszeiten seit 2000 annulliert. So kann er auch bei der nächsten Präsidentschaftswahl wieder antreten und theoretisch bis 2036 weiterregieren.

Derzeit bläst Wladimir Putin zum größten Truppenaufmarsch seit dem Ende des Kalten Kriegs. An der Grenze zur Ostukraine stehen gewaltige Heere und wird schweres Militärgerät aufgestellt, darunter ballistische Iskander-Raketen, die bis zu 700 Kilometer weit fliegen können. Kampfverbände wurden auch im befreundeten Belarus stationiert. Kürzlich hat Russlands Marine mit 20 Kriegsschiffen ein Manöver in der Ostsee begonnen, das bis zur irischen Küste reicht. Und im Februar, verkündete das Verteidigungsministerium in Moskau, sollen 140 Schiffe und 10.000 Marinesoldaten auf allen Weltmeeren Krieg üben.

Für ein Einlenken stellt Putin dem Westen bislang unannehmbare Bedingungen. Er verlangt einen Stopp jeglicher NATO-Erweiterung, ein Ende von NATO-Manövern in osteuropäischen Mitgliedsländern, den Abzug von NATO-Truppen aus diesen Gebieten und von atomaren Waffen aus Westeuropa. Russlands Präsident will einen Cordon Sanitaire um sein Reich legen, eine von ihm beherrschte Sicherheits- und Einflusszone.

Seit ewig ist klar, dass Putin die Verhältnisse in Europa umkehren und die alte Sowjetmacht in einem neuen russischen Gewand wiederauferstehen lassen möchte. Vor allem drei Dinge sind ihm ein Dorn im Auge: die Auflösung der Sowjetunion nach dem Fall der Mauer, die Putin nach wie vor als größte Schmach empfindet; die neuen Demokratien in Russlands Nachbarschaft, weil sie seine Herrschaft daheim gefährden; und drittens: der Rivale USA, weil er Russlands Machtanspruch in Europa und darüber hinaus begrenzt. In Putins Welt sind NATO und EU lediglich ein Wurmfortsatz US-amerikanischer Hegemonie. Er will eine neue, ganz eigene Sicherheitsarchitektur auf dem Alten Kontinent, eine ohne die Vereinigten Staaten.

Diesen Machtwahn sieht natürlich auch die Ampel-Regierung. Ihr im Koalitionsvertrag niedergeschriebenes Bekenntnis zum westlichen Verteidigungsbündnis und zur westlichen Wertegemeinschaft ist wohltuend klar und lässt nicht den Hauch eines Zweifels.

Und trotzdem: Auf Russlands Kriegsgerassel antwortet Olaf Scholz bislang nur sybillinisch: „Wir werden klug agieren.“ Das Zögern und die ungeschickte Rhetorik erwecken den Eindruck, als ginge es der Regierung im Falle von Sanktion vor allem darum, dass Deutschland dabei möglichst unbeschadet herauskommt.

Wie also sollen Drohungen Putin beeindrucken, wenn die Ampel-Koalition (und ebenso die CDU/CSU-Opposition) offenbar nicht genau weiß, womit sie drohen will? Wenn sie sich nicht traut, klipp und klar ein Aus für die Gaspipeline Nord Stream 2 anzukündigen – und Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder nicht einmal diese Sanktion will? Wie soll sich Putin fürchten, wenn der neue CDU-Vorsitzende Friedrich Merz lauthals davon abrät, russische Banken vom Zahlungsverkehrsdienstleister SWIFT auszuschließen, eine Maßnahme, die Moskau besonders schmerzen würde? Und wenn die Bundesregierung es nicht einmal zulässt, dass ein NATO-Partner wie Estland ein paar alte Haubitzen aus ehemaligen DDR-Beständen an die Ukraine weitergibt?

Deutschland ist der viertgrößte Waffenverkäufer der Welt und schickt sogar immer mal wieder schweres Gerät in Spannungsgebiete, etwa Panzerabwehrraketen an nordirakische Kurden. So genau also haben es Bundesregierungen nie mit ihren strengen Exportbeschränkungen genommen. Mit dem Verweis auf unsere verheerende jüngere Geschichte unterstützen wir zum Beispiel Israels Sicherheit mit modernen deutschen U-Booten made in Germany. Mit dem gleichen Verweis jedoch dürfen der Ukraine keine Waffen geliefert werden. Dabei haben Wehrmacht, SS und deutsche Sicherheitspolizei nicht nur in Russland furchtbar gewütet, sondern mindestens ebenso in der Ukraine. Allein im Tal von Babyn Jar nahe Kiew haben sie 1941 mehr als 33.000 jüdische Ukrainerinnen und Ukrainer ermordet.

Berlins Zögern untergräbt die transatlantische Partnerschaft und ermutigt Wladimir Putin.

Die Zurückhaltung bei Waffenlieferungen ist gleichwohl nachvollziehbar. Im Grunde erwartet auch kein NATO-Bündnispartner, dass Berlin die Ukraine im Kampf gegen Russland mit schwerem Militärgerät unterstützt. Doch die angekündigte Lieferung von gerade einmal 5000 Schutzhelmen, obwohl die Ukraine um die zwanzigfache Menge nachgesucht hat, wirkt da eher wie ein schlechter Scherz und nährt den Eindruck, dass sich Deutschland mal wieder aus der Affäre ziehen will. Etwas mehr Hilfe geht da schon – und sollte auch geleistet werden.

Berlins Zögern, die verklausulierte Rhetorik und das hinhaltende Taktieren zerstören Vertrauen, untergraben die transatlantische Partnerschaft – und ermutigen Wladimir Putin. Wichtig und richtig wäre in diesem brisanten Moment darum eine andere, eine entschiedene Botschaft aus Berlin in Richtung Moskau. Und deutsche Regierungen können in außenpolitischen Krisen durchaus entschlossen reden und handeln, das haben sie bereits einige Male unter Beweis gestellt, zum Beispiel nach der Annexion der Krim oder bei der Entführung eines Passagierflugzeugs durch Belarus.

Darum sollte Berlin auch jetzt dem Kreml öffentlich und unmissverständlich mitteilen: Alle Sanktionsoptionen liegen auf dem Tisch, im Klartext also auch Swift, die Nord Stream 2-Pipeline, ja, am Ende sogar das Aus sämtlicher russischer Gas- und Ölzufuhren, auch wenn diese Strafmaßnahmen uns Deutsche hart treffen würden.

Unzweideutig sollte Bundeskanzler Scholz sagen, dass nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs für uns Deutsche Freiheit und Sicherheit in Europa das höchste Gut sind. Dass wir für deren Verteidigung auch notfalls frieren, schwere wirtschaftliche Rückschläge einstecken und den Gürtel enger schnallen würden. Und weil Russland den Frieden auf dem Alten Kontinent bedroht, sollte Scholz hinzufügen, sind wir Deutsche auch bereit, gemeinsam mit unseren westlichen Partnern die NATO weiter zu stärken, insbesondere in ihren östlichen Gebieten.

Diese Botschaft der Härte muss aber – ganz im Sinn von Helmut Schmidt – mit einer zweiten, versöhnlichen verbunden werden. Sie könnte so lauten: Wenn Wladimir Putin einlenkt, wird die NATO selbstverständlich mit ihm über vertrauensbildende Maßnahmen reden, über gemeinsame Abrüstung und Sicherheit. Und als Deutsche bieten wir zusätzlich wissenschaftliche, technische und finanzielle Hilfe bei der notwendigen Umgestaltung und Transformation der russischen Wirtschaft an. Denn was oft übersehen wird: Hinter Putins brutalem Machtgebaren steckt auch die berechtigte Angst, dass die Energiewende eines Tages fossile Brennstoffe wie Gas und Erdöl weitgehend überflüssig machen wird und Russlands sprudelnde Einkommensquellen versiegen lässt.

Diese doppelte Botschaft könnte der Beginn einer neuen deutschen Ostpolitik sein. Darum sollte Bundeskanzler Scholz sie jetzt schnell und laut verbreiten, vor dem Bundestag, im Fernsehen, in Washington – und am besten auch gleich bei einem Besuch in Moskau. Verhandlung UND Abschreckung sind kein Widerspruch. Sie gehören in dieser Welt zusammen.

Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA. 

Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

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