„Wie sichern wir das Erreichte?“
Omid Nouripour zum Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan
27.04.2021
Anlässlich des geplanten Truppenabzugs aus Afghanistan gibt Omid Nouripour, MdB und außenpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag sowie Vorstandsmitglied der Atlantik-Brücke, seine Einschätzung zur Lage vor Ort, zu den Gefahren des Abzugs und den Voraussetzung, die geschaffen werden müssen, um den Afghaninnen und Afghanen ein friedliches, demokratisches und gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen.
Wie beurteilen Sie die Lage Afghanistans heute, 20 Jahre nach dem Beginn des Krieges?
20 Jahre nach dem ersten Einsatz der NATO-Truppen in Afghanistan sind viele Fortschritte – im zivilen sowie sicherheitspolitischen Bereich – erzielt worden: Verbesserungen beim Zugang zu Bildung und Ausbildung, bei Frauen- und Menschenrechten, bei politischen Rechten und Freiheiten, in der Ausbildung von nationalem Sicherheitspersonal, im Gesundheitsbereich, dem Aufbau institutioneller Kapazitäten auf zentralstaatlicher und Provinzebene und bei der guten Regierungsführung.
20 Jahre nach dem ersten Einsatz der NATO-Truppen in Afghanistan sind viele Fortschritte erzielt worden.
Diese Fortschritte haben wir den Soldatinnen und Soldaten zu verdanken, aber auch den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Entwicklungszusammenarbeit, der Polizei und an den deutschen Vertretungen im Land sowie den vielen Afghaninnen und Afghanen, die die deutschen, amerikanischen und NATO-Kräfte vor Ort unermüdlich unterstützen. Dennoch ist unserer Verantwortung für das Land damit noch lange nicht genüge getan: Weite Teile Afghanistans werden nach wie vor von den Taliban kontrolliert, Anschläge der Taliban erschüttern regelmäßig das Land, die Sicherheitssituation bleibt extrem schwer. Wie sich die Lage weiterhin entwickelt, hängt besonders von den Fortschritten bei den Friedensverhandlungen in Doha ab und wie konstruktiv sich die Taliban daran beteiligen.
Präsident Biden hat den Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan bis zum 4. Juli 2021 angekündigt. Auch die NATO-Truppen im Rahmen der Mission „Resolute Support“ werden das Land verlassen. Was wird das für Afghanistan bedeuten?
Die innenpolitische Logik dieses Abzugs ließ ihn absehen. Ob er die Lage in Afghanistan erleichtert, bezweifle ich. Dass Präsident Biden den Taliban keinerlei Bedingungen für den Abzug genannt hat, koppelt die internationale Präsenz komplett vom Fortschritt der Friedensverhandlungen zwischen den afghanischen Parteien ab. Die Vereinigten Staaten haben mit ihrer Ankündigung die Verhandlungsposition der afghanischen Regierung geschwächt; für die Taliban bestehen kaum noch Anreize, sich auf einen diplomatischen Prozess und Zugeständnisse einzulassen. Was das für Afghanistan letztlich bedeutet, ist momentan schwer abzuschätzen.
Die Vereinigten Staaten haben mit ihrer Ankündigung die Verhandlungsposition der afghanischen Regierung geschwächt.
Es gilt aber, das enger gewordene Zeitfenster bis zum Abzug aller internationalen Truppen aus Afghanistan gut zu nutzen, um die erzielten Erfolge in der Entwicklungszusammenarbeit und im sicherheitspolitischen Bereich nachhaltig zu sichern. Deutschlands Priorität als zweitgrößter Geldgeber Afghanistans muss die Beantwortung der Fragen sein: Wie sichern wir das Erreichte? Und wie kann eine zivile und politische Stabilisierung Afghanistans weiterhin möglich sein?
Sehen Sie eine realistische Chance, dass die Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban zu Frieden und Stabilität führen werden?
Die US-Administration hat einen bedingungslosen Abzug angekündigt, der die Verhandlungsposition der afghanischen Regierung schwächt, nachdem die vorherige Administration durch Verhandlungen mit den Taliban unter Ausschluss der legitimen afghanischen Regierung diese schon einmal desavouiert hatte.
Die Verhandlungen in Doha haben eine Chance, wenn die Taliban verstehen, dass sie auf lange Sicht nicht gegen die eigene Bevölkerung regieren können.
Die Verhandlungen in Doha haben aber eine Chance, wenn die Taliban verstehen, dass sie auf lange Sicht nicht gegen die eigene Bevölkerung regieren können, wenn sie nicht in verschiedene Lager verfallen und wenn Nachbarstaaten aus Einsicht in eigenem Nutzen endlich zu einer konstruktiven Rolle finden.
Was ist nötig, um demokratische Institutionen und demokratische Ideen in Afghanistan zu stärken?
Das beginnt mit der Beteiligung von Frauen und hört beim Staatsaufbau jenseits von Kabul nicht auf. Nichts davon wird nach unserem Abzug einfacher, im Gegenteil. Deshalb ist ein Friedensschluss so wichtig. Ein Friedensabkommen kann nur zu echtem Frieden führen, wenn alle Teile einer Gesellschaft sich darin wiederfinden und sich damit identifizieren können. Und wenn dieser Friedensschluss materiell unterfüttert ist.