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„Wir haben unsere Zukunftsprojekte vernachlässigt“

Interview mit Dr. Sylke Tempel, Chefredakteurin IP – Internationale Politik, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

Dr. Sylke Tempel ist eine gewichtige Stimme innerhalb der europäischen Gemeinschaft der Außen- und Sicherheitsexperten. Die Zeitschrift „Internationale Politik“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) verantwortet sie seit 2008. Nun fungiert sie auch für das neue „Berlin Policy Journal“ als Chefredakteurin. Mit dieser rein als App vertriebenen Publikation, die in einem zweimonatigen Rhythmus erscheint und ab der dritten bezogenen Ausgabe kostenpflichtig ist, verbindet Tempel das große Anliegen, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen. Das Magazin soll die komplexe deutsche und europäische Außenpolitik einem internationalen Publikum verständlich machen. Derzeit arbeitet Tempel an der vierten Ausgabe, die am 6. September unter dem Schwerpunkttitel „Building Ukraine“ veröffentlicht werden soll. Im Interview mit Atlantik-Brücke Quarterly spricht sie über Deutschlands internationale Rolle, eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und das transatlantische Bündnis.

Frau Tempel, das „Berlin Policy Journal“ ist eine junge, digitale Publikation der DGAP. Welches Bild der deutschen und europäischen Außenpolitik möchte es vermitteln?

Erstmal das Bild, das es selbst vermittelt. Es ist eine App, ein modernes Veröffentlichungsformat, noch dazu elegant in der Erscheinungsform. Das ist die einfachste Methode, eine englischsprachige Leserschaft zu finden, die in Europa angesiedelt sein kann. Das Journal soll die europäische und deutsche Außenpolitik aber auch in die USA, nach Lateinamerika und Asien vermitteln. Es soll unteutonisch wirken, weil wir als Gesellschaft lockerer und liberaler geworden sind. Selbstverständlich wollen wir unsere Außenpolitik kritisch begleiten, weil vollkommen klar ist: Ein Land, das jetzt größere Verantwortung übernimmt wie Deutschland, muss intelligent und wohlwollend hinterfragt werden.

Nach Jahren der Zurückhaltung, der Strategie des kurzfristigen Reagierens will Deutschland mehr Verantwortung in der internationalen Politik übernehmen und langfristiger agieren. Wie schneidet die Regierung Merkel bisher dabei ab?

Es wird behauptet, Angela Merkel habe keine langfristigen Visionen. Doch sie hat durchaus Vorstellungen für ein Europa, das eben nicht nur intergouvernemental ist, sondern tatsächlich zusammenwächst. Das war in den Verhandlungen um die Euro-Krise zu spüren. Wir hatten ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht gewusst, was Europa mehr schadet: wenn Griechenland aus der Euro-Zone herausfällt oder wenn es darin verbleibt. Die zweimalige Entscheidung, Griechenland unter allen Umständen zu halten, ist bemerkenswert. Beide Male unterstrichen durch den Satz „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“. Merkel wiederholt ja selten einen Satz, nachdem sie für ihn kritisiert worden ist. Aber dieser Satz betrifft das Kernprinzip, dass das, was wir an Integration vereinbart haben, nicht aufgelöst wird. Deswegen sehe ich darin eine Europapolitik, die in kleinen Schritten auf etwas zugeht, was die ever closer union sein soll. Und wenn man auch zur Russland-Krise wie bei der Münchner Sicherheitskonferenz genau zuhört, dann kommt von Merkel sinngemäß eine solche Aussage: „Sehen Sie, als ich klein war, wurde die Mauer gebaut. Die Amerikaner haben nicht sofort darauf reagiert, und es hat mehr als 25 Jahre gedauert, die Mauer zu überwinden. Trotzdem sind wir heute an diesem Punkt, weil ich weiß, dass wir am Ende gewinnen.“ „Wir“ ist die Welt der liberalen Demokratien plus Marktwirtschaft. Dahinter steckt ein langer Atem, und das zeigt: Unser Interesse ist, die Welt in eine regelbasierte und Interessengegensätze im Konsens behandelnde Welt zu verwandeln.

Welches sind derzeit nicht nur für die Bundesregierung, sondern auch für die EU die größten außenpolitischen Herausforderungen?

Es ist zunächst eine ideologische Herausforderung ohne überzeugende Gegenideologie. Man hat es eine Weile konservative Revolution genannt. Ich glaube, es ist die antiwestliche Revolution, die Putin mit Russland betreibt. Dieses Zurückweichen von der westlichen Moderne in das angeblich Authentische ist eine Spur, die sich in der russischen Geschichte verfolgen lässt. Da ist aber auch die Herausforderung durch China, das sich als Land sui generis als einzigartig und nicht nachahmbar empfindet und sagt: „Ihr immer mit eurer wertebezogenen Politik! Wir finden euch ohnehin verlogen, weil wir genau wissen: Wenn es um Geschäfte geht, dann seid ihr da.“ China versucht, uns zu beweisen, dass Innovation auch gesteuert werden kann und nicht die Freiheit braucht. Der politische Islam gehört ebenfalls zu den Herausforderungen. Er lehnt alles ab, was jemals westliche Moderne war, auch weil er gar nicht versucht, sich ihr zu nähern. Der Iran etwa fordert uns heraus mit einem System, das sich auf hervorragende Art die Technologie, die Hardware des Westens angeeignet hat, aber sich der Software zumindest in Teilen verweigert. Denn innerhalb des sehr eng gesteckten Rahmens des politischen Islams gibt es Diversität und politische Kontroversen.

Die Bekämpfung des IS im Irak und in Syrien wird voraussichtlich Jahre in Anspruch nehmen. Die türkische Regierung nutzt die verfahrene Situation in seinem Nachbarland Syrien aus, um gegen Kurden vorzugehen. Wie müsste eine kluge gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik darauf antworten, um deeskalierend zu wirken?

Das ist die One Million Dollar Question. Europa ist dabei, einen außenpolitischen Apparat aufzubauen, aber wir brauchen auch einen sicherheitspolitischen Apparat. Die Marathonvision soll heißen, dass wir einen oder eine High Representative brauchen, die mit entsprechenden Insignien und dem Apparat ausgestattet sind, inklusive Intelligence. Diplomatie, ohne dass man im Zweifel eine eiserne Faust aus dem Samthandschuh ziehen kann, wird nicht erfolgreich sein. Wir brauchen eine europäische Armee. Ich fände es wünschenswert, wenn die Lead Nations aus Frankreich, Großbritannien, Polen und Deutschland bestünden. Was den IS betrifft, geht es um die Entwicklung einer Linie. Dem Konflikt in Syrien liegt zugrunde, dass er mit einer veritablen Krise der arabischen Staaten begonnen hat, die es seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nicht geschafft haben, eine Legitimität in ihren Gesellschaften zu finden. Das ist ein Staatsversagen auf weiter Strecke, hauptsächlich der säkularen Staaten, weil dort noch nicht einmal die Legitimationsquelle Monarchie vorhanden ist. Das Krisenmanagement muss darin bestehen, sich zu fragen, wie eine Staatenwelt aussehen kann, die über Legitimität verfügt. Wenn ich einen Zauberstab hätte, würde ich feststellen, dass sich in Syrien und im Irak durchaus eine nationale Identität gebildet hat, die eine Zeit lang gehalten hat. Daraufhin würde ich mir nicht nur eine politisch verantwortliche Elite schaffen, sondern auch eine Gesellschaft, für die vollkommen klar ist, dass ein Staatsbürgerverständnis – jemand kann Syrer und daneben Alewit oder Sunnit oder Kurde sein – und das Recht die Grundlage für alles sind. Das ist aber nicht herbeizuzaubern. Deswegen stellt sich die Frage: Welche Art von politischen Entitäten wird man vorfinden? Basieren diese auf Ethnien oder religiösen Gruppierungen? Wir müssen ehrlicherweise sagen: Diejenigen, denen es am ehesten gelungen ist, eine stabile Staatlichkeit herzustellen, sind die nordirakischen Kurden. Wenn wir sie stärken wollen, müssten wir der Tatsache ins Auge sehen, dass der Irak zerfallen ist. Wir müssten einen kurdischen Staat anerkennen unter der Maßgabe, dass er keine Ansprüche auf weitere kurdische Gebiete innerhalb des Iraks oder andere umkämpfte Gebiete wie in Syrien erheben kann. Als Nächstes ginge es darum, eine moderate sunnitische Gruppierung zu finden, die sich stärken lässt. Da wird gezerrt zwischen der Türkei und Erdogan, der offensichtlich seine innenpolitischen Querelen per Außenpolitik und sogar Kriegsführung zu erledigen versucht, um seine Alleinherrschaft aufzustellen.

Das „Berlin Policy Journal“ widmet seine Aufmerksamkeit großen Themen von der griechischen Schuldenkrise über den Ukraine-Konflikt bis zur Energiewende. Allerdings spielt das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA kaum eine Rolle. Können Sie das erklären?

Als wir die zweite Ausgabe „The West Adrift“ produziert haben, wäre TTIP ein denkbares Thema gewesen. Aber wir haben uns dafür entschieden, TTIP nicht hineinzunehmen, weil wir Grundsätzliches klären wollten. Es ging um den Westen als mentalen und nicht als geografischen Zustand, um die liberale Demokratie plus Marktwirtschaft. Es ging aber auch um das, was wir zusammen jenseits von TTIP gestalten. Ich halte TTIP für eine der wichtigsten geostrategischen Angelegenheiten. Erstens kommt es darauf an, Standards zu setzen in einer Welt, in der es schwieriger wird, diejenigen Standards, von denen wir zu Recht annehmen, dass sie richtig sind, zu verankern: Verrechtlichung, Konsensbildung und Regelbasierung. Zweitens müssen wir der zunehmenden Verknüpfung und Komplexität gerecht werden. Im Training, egal in welcher Sportart, bekommen Sie die grobe Technik relativ schnell hin, aber an der Verfeinerung, der Verästelung arbeiten Sie richtig. So verhält es sich auch bei TTIP. Wir haben so ein großes Fundament, doch jetzt geht es in die Verfeinerung. Deswegen ist TTIP in seiner Komplexität schwieriger zu kommunizieren. Deswegen dauert es länger. Doch wir müssen damit vorankommen.

Wie ist es vor dem Hintergrund der NSA-Affäre derzeit um die transatlantischen Beziehungen bestellt?

Die NSA-Affäre wäre gar nicht so hochgegangen, wenn wir nicht vorher schon Dellen und Materialermüdungen im transatlantischen Verhältnis gehabt hätten. Nach 1989/90, diesem unmittelbaren Moment der Freude, ist etwas umgeschlagen wie in einer alten Ehe, in der wir neue Partner viel attraktiver finden. Leider interpretieren ältere Transatlantiker eines nicht richtig: Dankbarkeit ist kein Fundament für außenpolitische Beziehungen. Dinge, die wir zusammen angehen können, sind ein Fundament für außenpolitische Beziehungen. Noch vor der Finanzkrise und 9/11 sind wir in eine Periode des Selbstzweifelns gekommen, die eines ausdrückte: Asien ist der Zukunftskontinent, wir haben abgedankt und sind wirtschaftlich nicht mehr erfolgreich. Doch ich sehe nicht, dass Asien seine vielfältigen Probleme schon aussortiert hat. Bei ausgebildeten Industrien ist es immer so, dass sie keine zehn Prozent Wachstum mehr erzielen. Im transatlantischen Verhältnis ist es wie in einem älteren Gebäude, in dem sich Risse im Putz zeigen. Wenn niemand fragt, welche Projekte wir verfolgen, und wenn wir kulturelle Unterschiede zwischen den europäischen Staaten, Europa als Gesamtem und den USA auf grundsätzliche Werteunterschiede zurückführen, dann wird die Debatte über die NSA und den BND über die Maßen hysterisch. Hinzu kommt, dass wir durch ein jahrelanges Zwergendasein, das die Amerikaner die schmutzigen Angelegenheiten in der Außen- und Sicherheitspolitik gerne hat erledigen lassen, den realistischen Sinn dafür verloren haben, was an Intelligence notwendig ist und wo Grenzen sind. Mich beunruhigt die NSA auch, vor allem weil ich mich frage, ob die NSA bei dieser Art von Datensammelwut noch ihre Kernaufgabe erledigen kann oder in den Daten versinkt. Daten sind nur dann interessant, wenn man aus ihnen Informationen und daraus wiederum Wissen generiert.

Heißt das, dass die transatlantischen Entscheidungsträger es in den zweieinhalb Dekaden nach dem Mauerfall versäumt haben, ihr Werte- und Interessengerüst zu erklären und durch Zukunftsprojekte zu erneuern?

Ja, absolut. Die Betonung liegt auf Zukunftsprojekte, denn die haben wir vernachlässigt. Dabei kann man schnell eine gesamte Liste davon erstellen. Man hört manchmal, dass die Werte nicht übertragbar seien, als seien in den ersten 19 Artikeln des Grundgesetzes, in der Unabhängigkeitserklärung und in der Constitution nicht universale Rechte festgeschrieben, die jedem einzelnen Menschen garantiert sind. Mir würden zahlreiche Brennpunkte einfallen, bei denen wir nicht ohne einander auskommen wollen und können. Wir haben vielleicht taktische Unterschiede wie in der Ukraine und beim IS, aber doch keine strategischen. Wir wollen regelbasierte Fundamente wieder befestigen und Demokratien immer den Vorzug vor Diktaturen geben. Wir sind uns nur in der Wahl der Mittel manchmal uneins.

In den USA bahnt sich für 2016 ein Duell der Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und Jeb Bush an. Mit wem würden Deutschland und Europa bei der Lösung globaler Krisen im Zweifel mehr erreichen können?

Mit Hillary Clinton hätte man auf jeden Fall eine Präsidentin, die außenpolitisch enorm erfahren wäre. Das haben wir in der Phase der Zusammenarbeit mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier gesehen: In einer Krisenzeit ist es von Vorteil, jemanden zu haben, der nicht erstmal den Apparat kennenlernen muss. Man hat ja bei Obama erlebt – der angetreten ist, um Amerika innenpolitisch zu verändern –, dass er auf dem Feld der Außenpolitik erstmal keine Ahnung hatte. Bush mag außenpolitisch nicht so erfahren sein, doch am Ende geht es um die Sache. Europa könnte mit einem republikanischen Präsidenten genauso gut auskommen wie mit einer demokratischen Präsidentin. Das haben wir in der Geschichte öfter erlebt: Kennedy etwa, der große Erneuerer, war nicht einfach für einen Teil der älteren Elite der Bundesrepublik. Umgekehrt lief es mit Republikanern besser. Ich mache mir vielmehr Sorgen darüber, dass sich dieses so klug aufgestellte Institutionengefüge der USA wegen einer Blockadehaltung zwischen Demokraten und Republikanern selbst ausbremst.

Link zur Seite des „Berlin Policy Journal“

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