Europa-Wahlen

„Wir müssen eine positive Erzählung zur EU entwickeln“

Martin Schulz, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung und früherer Präsident des Europäischen Parlaments, betont die Bedeutung von Einigkeit und Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Im Kurzinterview nach den Europa-Wahlen spricht er außerdem über die transatlantische Wertegemeinschaft und den bisweilen skeptischen Blick der USA auf Europa.

Herr Schulz, wie groß ist die Gefahr, dass sich nach der Europa-Wahl ein rechtspopulistischer transatlantischer Block zwischen der AfD, weiteren europäischen Parteien aus dem rechtsextremen Lager und dem Trumpismus in den USA manifestiert?

Zunächst einmal ist es entscheidend, dass wir die Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte innerhalb Europas und transatlantisch stärken und die Wertegemeinschaft stärken. Das hilft uns mehr, als ängstlich auf die Rechten zu schielen.

Aber um die Frage zu beantworten: Ich würde weniger von einem Block als von rechten Netzwerken sprechen. Bisher sind die rechtsextremen Kräfte ja nicht mal innerhalb Europas in der Lage, einen einheitlichen Block zu bilden. Natürlich gibt es Kontakte und Austausch – die existieren bereits jetzt unter europäischen Rechtsextremen und auch transatlantisch. Donald Trumps Aufstieg bietet in einigen Bereichen die Blaupause für europäische Rechtspopulisten – insbesondere im Hinblick auf die Manipulation durch die Medien: diese Mischung aus Desinformation, Demokratieverachtung und Verschwörungstheorien, die die Polarisierung der Gesellschaft immer weiter vorantreibt.

Die Kooperation von Nationalisten hat aber notwendigerweise Grenzen: Wenn in der Ideologie einer Partei angelegt ist, dass jeder nur das Maximum für sein eigenes Land und die eigene Klientel herausholen will, kann echte internationale Zusammenarbeit, bei der gemeinsame Probleme gemeinsam gelöst werden, kaum stattfinden. Zwar kann es der AfD und anderen rechten Parteien in Europa kurzfristig in die Hände spielen, wenn rechtsextreme Netzwerke aus den USA oder anderen Ländern hier ihren schädlichen Einfluss verbreiten. Aber es ist doch offensichtlich, dass solche Akteure eine ganz eigene Agenda verfolgen, die sich jeden Tag auch gegen die Interessen der Rechtsextremen in Europa wenden kann. Eine kurzfristige Interessenüberschneidung ist eben noch keine Wertegemeinschaft.

Welche generellen Konsequenzen dürften die Wahlen zum Europäischen Parlament aller Voraussicht nach für die transatlantischen Beziehungen haben?

Das kommt darauf an, welche Schlüsse aus dem Ergebnis gezogen werden. Wir müssen eine positive Erzählung zur EU entwickeln und natürlich auch zur transatlantischen Partnerschaft. Eine EU, die nicht attraktiv für ihre eigenen Bürger ist, ist auch kein attraktiver internationaler Partner.

Traditionell blicken die USA ohnehin eher skeptisch auf die EU als Gesamtgebilde, weil sie sie für zu divers und nicht schlagkräftig genug halten. Wenn die EU sich zurückentwickelt zu einer Plattform, in der hinter verschlossenen Türen die Interessen von Einzelregierungen gegeneinander abgewogen werden, dann werden die bilateralen Beziehungen mit Einzelstaaten immer interessanter sein.

Die USA haben aber ein Interesse an einem handlungsfähigen, souveränen Europa, das seine Probleme selbst lösen kann. Im Kontext des russischen Angriffs auf die Ukraine hat die EU gezeigt, dass sie in der Lage zu schnellem, gemeinsamem Handeln ist. Diese Kapazität muss ausgebaut werden. Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass alle Entscheidungen auf die Ebene der EU verlegt werden sollen – viele Politikfelder sind bei den Nationalstaaten besser aufgehoben.

Aber bei Herausforderungen, die gemeinsames Handeln erfordern, muss die Problemlösungskapazität der EU gestärkt werden. Ob die EU die Einigkeit und politische Kraft aufbringt, sich selbst zu reformieren, auch mal Kompetenzen abzugeben und überdies auch die Erweiterung voranzutreiben und beispielsweise die Länder des Westbalkan und natürlich die Ukraine und Moldau in die Gemeinschaft aufzunehmen, wird entscheidend dafür sein, wie die USA auf uns blicken – und das gilt unabhängig davon, wer ab 2025 im Weißen Haus residiert.

In welchem politischen Themenfeld der Europäischen Union erwarten Sie die größten Auswirkungen von den Wahlen in Europa für das Verhältnis der EU zu den Vereinigten Staaten?

Die einfache Antwort darauf wäre wahrscheinlich Sicherheit, Handel, Energie. Die Ausgestaltung der Beziehungen zu China wird für die transatlantischen Beziehungen in Zukunft wichtiger werden. Die Frage, wem wir den europäischen Markt zu welchen Konditionen öffnen. Und natürlich, ob wir bereit und in der Lage sind, sicherheitspolitisch in Europa und seiner Nachbarschaft Verantwortung zu übernehmen.

Noch entscheidender ist aus meiner Sicht aber die innere Verfasstheit der EU und der Grad von Einigkeit und Handlungsfähigkeit, die daraus entstehen. Wir müssen entscheiden, wer wir als Europa sind und sein wollen. Ob Europa die Friedensidee der transnationalen Demokratie auf der Grundlage von Freiheit, Respekt und Toleranz verteidigt.

Ob wir uns zurückziehen wollen in ein Europa, in dem internationale Politik als Nullsummenspiel gedacht wird, in dem der Eine gewinnt und der Andere verliert, oder ob wir diesen Kontinent gemeinsam zum Wohle aller gestalten wollen – sicher und sozial gerecht. Diese Handlungskraft macht die EU zu einem Partner auf Augenhöhe in allen Themenfeldern.

Martin Schulz ist Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung. Von 2012 bis 2017 war er Präsident des Europäischen Parlaments. 

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