Die 6. Stunde

Zweierlei Maß

Eine Kolumne von Martin Klingst

Ja, es gibt Straßenproteste gegen Wladimir Putins Säbelrasseln, gegen den Ausbruch des „vielleicht größten Kriegs in Europa seit 1945“, wie Großbritanniens Premierminister Boris Johnson auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnte. Hier und da versammeln sich in deutschen und europäischen Städten Menschen, um für Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer zu demonstrieren. (Als diese Kolumne geschrieben wurde, war nach wie vor ungewiss, ob Russland die Ukraine wirklich angreifen würde.)

Aber diese versprengten Kundgebungen gegen den vom Kreml orchestrierten Wahnsinn sind nichts im Vergleich mit den Massenprotesten gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, wann immer sie in den vergangenen Jahrzehnten den Militärknüppel aus dem Sack holten.

Hunderttausende Menschen gingen hierzulande in den sechziger und siebziger Jahren gegen den verheerenden Vietnamkrieg auf die Straße – oder als U.S.-Präsident George W. Bush 2003 mit Hilfe von Lügen einen Angriff auf den Irak befehligte. Selbst gegen den 1991 von Amerika angeführten ersten Irakkrieg zur Befreiung Kuwaits, immerhin legitimiert durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, begehrten Zigtausende auf.

Wo aber bleibt hierzulande der massenhafte Aufschrei gegen Russlands Waffengänge, warum wird dagegen nicht ebenso entschieden demonstriert? Zum Beispiel gegen die zwei äußerst grausamen Tschetschenienkriege? Oder 2008 im Georgienkrieg? Oder 2014, als Russlands Präsident Wladimir Putin die Krim besetzen ließ und anschließend annektierte? Wo war der Protest, als russische Truppen in Syrien Städte und Dörfer bombardierten? Als Putin dem belarussischen Despoten Lukaschenko zur Seite sprang oder Fallschirmspringer zur Niederschlagung der Demonstrationen im benachbarten Kasachstan entsandte?

Wo bleibt hierzulande der massenhafte Aufschrei gegen Russlands Waffengänge?

Gründe, warum Europäer – und besonders wir Deutsche – an das Verhalten der Vereinigten Staaten eine ganze eigene und besonders strenge Messlatte anlegen, gibt es viele. Man kann fast bis zur Entdeckung Amerikas zurückgehen: von Anbeginn an waren die USA eine riesige Projektionsfläche für Hoffnungen, Erwartungen und Ideale – aber ebenso für Enttäuschungen, Verbitterung, gar Hass. Die einen verklärten die Neue Welt, die anderen verteufelten sie. Grautöne fanden sich selten.

Europäische Aufklärer und Romantiker begeisterten sich für die Welt auf der anderen Seite des Atlantiks – oder rieben sich an ihr. Sozialisten und Anarchisten setzten nach Amerika über, in der Hoffnung, von dort die Weltrevolution zu verbreiten. Sogar einige Nazis waren auf die ihnen im Grunde verhassten Vereinigten Staaten fixiert, mal rühmten sie die amerikanischen Rassengesetze, mal die flächendeckenden Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des New Deal.

Amerika lässt so gut wie keinen kalt.

Amerika diente den Einwanderern aus Europa als Zufluchtsort – und zugleich als gewaltiges Experimentierfeld. Die einen wollten dort ihre Utopie leben, eine völlig von der Vergangenheit losgelöste neue Zukunft kreieren. Für die anderen hingegen war ihre leidvolle europäische Geschichte stets präsent, in bewusster Abgrenzung zu ihr strebten sie danach, für sich in der neuen Heimat eine bessere Welt aufzubauen.

Amerika lässt so gut wie keinen kalt. Selbst viele, die noch nie dort waren, haben eine feste Meinung von dem Land. Man kann dem Einfluss der USA auch kaum entgehen, amerikanische Musik und Filme, Produkte von Apple, Tesla oder Levis Jeans sind global stil- und lebensprägend. Wählen die Amerikaner einen neuen Präsidenten, fiebern auch in Europa Millionen von Fernsehzuschauern mit, als ginge es dabei um die Wahl ihres eigenen Staatsoberhaupts. Umfragen belegen, dass viele Europäer liebend gerne von jemandem wie Kennedy oder Obama regiert worden wären.

Auch Europäer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Kommunismus aufwuchsen, blickten gebannt auf die USA. Für die einen waren sie der Klassenfeind, für die anderen Sehnsuchtsort. Als die radikale schwarze Bürgerrechtlerin Angela Davis nach ihrem Freispruch in einem Mord- und Verratsverfahren im Herbst 1972 der DDR einen Besuch abstattete, wurde sie wie ein hoher Staatsgast empfangen.

Erich Honecker präsentierte sich stolz mit ihr, um dem „rassistischen, kapitalistischen und imperialistischen Amerika“ eins auszuwischen – und um der Welt zu demonstrieren, dass die DDR auf der richtigen Seite der Geschichte stand. Wo immer Angela Davis auftrat, von Ost-Berlin bis Leipzig, jubelten ihr Zehntausende von Ostdeutschen zu. Doch die Begeisterung galt mindestens genauso sehr der Frau aus einer unerreichbaren, gleichwohl heiß begehrten Welt wie der Bürgerrechtsikone.

Amerika sei auch für sie ein Sehnsuchtsort gewesen, gestand die in der DDR aufgewachsene ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Kaum sei die Mauer gefallen, hätten sie und ihr Mann sich auf den Weg gemacht. „Niemals werden wir den ersten Blick auf den Pazifischen Ozean vergessen,“ sagte sie 2009 in einem Augenblick seltener Rührung in einer Rede vor dem amerikanischen Kongress.

Der Blick auf Amerika ist für uns auch oft auch ein Blick nach innen.

Weil dieses Amerika in seiner – durchaus selbst inszenierten – symbolisch aufgeladenen Bedeutung immer auch ein Teil von uns ist, sind wir oft zutiefst enttäuscht und besonders ungnädig, wenn wir dort nicht finden, was wir suchen:  Weil Amerikas Verheißungen an den Klippen der Realität zerschellen, weil die Fackel der Freiheit nicht wirklich leuchtet und das Demokratie-Versprechen mitunter heuchlerisch ist.

Der Blick auf Amerika ist für uns auch oft ein Blick nach innen, auf unsere Gefühlswelt und unser eigenes Selbstverständnis.  Darum kann auch nur über die Vereinigten Staaten ein Buch mit dem ebenso emotionalen wie pathetischen Titel erscheinen: „Warum wir Amerika wieder lieben.“ (In diesem Fall nach der Wahl von Barack Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der USA.) Bei anderer Stimmungslage ließe sich „lieben“ auch durch „hassen“ oder „verachten“ ersetzen.

Und dennoch kann diese besondere Psychologie keine Rechtfertigung dafür sein, dass allein amerikanische, nicht aber russische Kriegsdrohungen Hunderttausende von Europäern auf die Barrikaden treiben. Denn auch im Konflikt mit dem Kreml geht es um die Bedrohung fundamentaler Werte, also um uns selbst.

Wladimir Putin behauptet, die NATO bedrohe mit ihrer Osterweiterung Russlands Sicherheit. Ohne Zweifel wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion Fehler gemacht und ohne Not Empfindlichkeiten verletzt. Aber jene Staaten der ehemaligen UdSSR und des Warschauer Pakts, die nach 1989 Schutz unter dem Schirm des westlichen Verteidigungsbündnisses suchten, taten dies aufgrund traumatischer Erfahrungen mit Moskau. Und: Sie traten der NATO aus eigenem Wunsch, aus freiem Willen und in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung bei.

In der Ukraine stehen Europa und unsere freiheitlich-demokratischen Werte auf dem Spiel.

In Wahrheit geht es in der augenblicklichen Krise auch nicht um die Ukraine oder um die NATO. Putin geht es allein um den Erhalt seiner Macht und die Aufrechterhaltung seines autoritären Regierungssystems. Dieses System wird nicht von der NATO oder der EU bedroht, sondern von der Demokratie, die inzwischen bis an die russischen Grenzen vorgerückt ist.

Putin fürchtet den – gerade auch in seiner Nachbarschaft – immer stärker werdenden Wunsch nach Freiheit und Souveränität. Weil dieser Wunsch sein Imperium gefährdet, will er die Ukraine unter seine Kontrolle bringen und einen von ihm beherrschten Sicherheitsgürtel um Russland legen, in dem Statthalter von Moskaus Gnaden das Zepter führen. In der Ukraine stehen Europa und unsere freiheitlich-demokratischen Werte auf dem Spiel.

Warum treibt diese Sorge nicht Hunderttausende auf die Straße? Warum werden – wie damals, als die USA im Irak Krieg führten – nicht Menschenketten für den Frieden gebildet und als Zeichen des Protests weiße Bettlaken aus den Fenstern gehängt?

Es ist Zeit, das Messen mit zweierlei Maß zu beenden.

Martin Klingst ist Senior Expert & Nonresident Author bei der Atlantik-Brücke. Zuvor war er unter anderem Leiter des Politikressorts, USA-Korrespondent und Politischer Korrespondent bei der ZEIT. Im Bundespräsidialamt leitete er anschließend die Abteilung Strategische Kommunikation und Reden. Beim German Marshall Fund of the United States ist Martin Klingst Visiting Fellow. In „Die 6. Stunde“ schreibt er für die Atlantik-Brücke seine Betrachtungen über ein Land auf, das sechs Zeitzonen entfernt und uns manchmal doch sehr nahe ist: die USA. Mehr Informationen über Martin Klingst und seine Arbeit finden Sie auf seiner Website.

Die Beiträge unserer Gastautorinnen und -autoren geben deren Meinung wieder und nicht notwendigerweise den Standpunkt der Atlantik-Brücke.

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